Doch Grandma besaß keine schwarze Seele, dessen waren sich die beiden Kinder sicher. Gut, sie benahm sich manchmal seltsam, vielleicht auch etwas verrückt, aber ganz gewiss nicht böse.
Grandma hatte zu kaum jemandem Kontakt, lebte zurückgezogen in ihrem schmucken Häuschen, und ließ sich nur gelegentlich auf der Straße sehen. Dennoch schien sie immer hoch erfreut, wenn Tom und Judy sie besuchten. Es kam nicht selten vor, dass Grandma ihnen Geld oder Süßigkeiten zusteckte, bevor sie nach Hause gingen. Sie spürte, dass die Kinder ihre Zuneigung erwiderten, und das rührte die alte Frau.
»Sollen wir Mom und Dad wecken?«, fragte Judy ihren Bruder.
»Ach was!«, winkte Tom ab. »Wir bleiben ja nicht lange.«
»Na gut«, erwiderte Judy, von dem Vorhaben, sich heimlich davonzuschleichen, nur wenig begeistert. Tom nahm seine Schwester an der Hand, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Grandma Wilsons Haus lag am Ende der gegenüberliegenden Straßenseite, etwa zweihundert Meter vom Grundstück der Wilders entfernt. Das Gebäude erweckte einen überaus gepflegten Eindruck, ebenso der kleine Vorgarten. Ein Gärtner sorgte hier jede Woche für die Pflege der Blumenpracht, welche das Häuschen wie einen Kranz umgab. An der Rückseite befand sich eine große, gemütliche Veranda, auf der sie bei schönem Wetter mit Süßigkeiten und Limonade zusammensaßen, wobei Grandma ihnen Geschichten erzählte. Unheimliche, gruselige Stories manchmal, aber, wie die alte Dame hoch und heilig schwor, wahre Geschichten. Oft erzählte sie auch von ihren Visionen, die sie gelegentlich heimsuchten und sie Ereignisse voraussehen ließen.
Anfangs hielten die Kinder diese Erzählungen für übertrieben und neigten fast dazu, dem Gerede der Leute von einer verwirrten, etwas irren alten Lady, Glauben zu schenken.
Bis die Sache mit Mr. Studebaker passierte ...
Mr. Studebaker verunglückte vor einem halben Jahr auf einer seiner Geschäftsreisen – er jobbte als Handelsvertreter einer Staubsaugerfirma – tödlich. Er wohnte nur zwei Straßen von den Wilders entfernt und galt als äußerst hilfsbereiter und höflicher Mensch, der für jeden seiner Nachbarn stets ein nettes Wort bereithielt.
Tom und Judy erschraken damals sehr, als ihr Dad Mom beim Frühstück den Artikel aus der Zeitung vorlas. Studebakers Wagen kam bei nasser Fahrbahn von der Straße ab und stürzte einen steilen Abhang hinunter, wobei sich das Fahrzeug mehrmals überschlug. Das Entsetzliche an dem Unfall lag in dem verhängnisvollen Zufall, dass der Fahrer von der Windschutzscheibe seines Wagens geköpft wurde. Die zuständigen Behörden verbrachten einige Zeit mit der Suche nach dem Kopf des Verunglückten. Sie fanden ihn am Ende des Abhangs in einem Gebüsch.
Und Grandma wusste, dass es geschehen würde.
In einer ihrer Visionen erlebte sie den Unfall in aller Deutlichkeit mit. Immer und immer wieder nervte die sonst so kontaktarme Frau die Studebakers mit ihren Warnungen. Und immer und immer wieder klagte sie den Kindern ihr Leid, von dem Ehepaar nicht nur missachtet zu werden, sondern dieses ihr sogar drohte, Anzeige wegen Hausfriedensbruch zu erstatten.
Als das Unglück dann geschah, machten einige Bürger Tretmonds, darunter Mrs. Studebaker, Grandma insgeheim für die Tragödie verantwortlich. Hinter vorgehaltener Hand schimpfte man sie eine Hexe, die den Teufel beschwor und das Unheil magisch anziehe. Vor allem die älteren Herrschaften der Gemeinde wurden zu eifrigen Verfechter jener Theorie. Ein älteres Ehepaar, das sich ein Grundstück neben Grandmas Haus gemietet hatte, packte seine Koffer und zog zurück in die Stadt.
Die Mehrzahl der Bewohner des kleinen Städtchens hielten den Vorfall jedoch für puren Zufall. Für sie galt Dorothea weiterhin als eine alte, wirre Frau, die zwar nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, aber in jedem Fall harmlos blieb. An Übernatürliches wollte man nicht glauben. Man belächelte nur still ihre Visionen.
Doch die Wilderkinder wussten es besser.
Grandma verfügte über das zweite Gesicht. Sie stellte einen Magneten dar, der Übersinnliches, Geheimnisvolles und Mystisches anzog. Die beiden fanden das alles unheimlich aufregend und interessant. Nie wären sie aber auf die Idee gekommen, so etwas wie Furcht vor der alten Lady zu empfinden. Dazu hatten sie sie viel zu tief in ihre kleinen Herzen geschlossen.
So trotteten die zwei Kinder frohgelaunt die Stufen zu Grandmas Haus hinauf, mit der Vorfreude auf etwas Süßem, welches ihnen Grandma sicher wieder anbieten würde.
Tom legte seinen Finger gerade auf den Klingelknopf, unter dem in Großbuchstaben der Name Dorothea Wilson auf einem Messingschild gestanzt prangte, als sich die Tür langsam vor ihnen auftat. Ein mit unzähligen Fältchen und Runzeln bedecktes Gesicht lächelte den beiden entgegen.
»Tag, Grandma«, grüßte Tom freudig. Judy nickte nur in ihrer stillen, schüchternen Art.
»Hallo, ihr zwei Hübschen. Das freut mich aber, dass ihr mal wieder vorbeischaut, um einer einsamen alten Frau ein wenig Gesellschaft zu leisten. Wie komisch, irgendwie muss ich geahnt haben, dass ihr vorbeikommt. Limonade und Schokoplätzchen stehen schon bereit. Kommt rein, vor der Tür erzählt sich's schlecht. Setzen wir uns auf die Veranda, dort ist es schön schattig. Es ist zwar fast etwas zu heiß für mein Alter, aber drinnen halt ich es einfach nicht aus.«
Judy fiel sofort auf, dass Grandma, die ihr volles graues Haar sonst offen über ihre Schultern fallen ließ, es heute zu einem Knoten zusammengebunden trug. Dadurch wirkte sie noch um einiges älter. Sie fragten sich oft, wie alt Grandma sein möge, denn über ihr Alter sprach Dorothea Wilson nie. Einmal, als Tom sie danach fragte, erklärte sie nur, sie sei schon viel zu lange auf dieser Welt. Dad vermutete, sie hätte die Achtzig sicher um einiges überschritten, wobei Gerüchte behaupteten, sie müsse über hundert Jahre alt sein. Wie alt Grandma wirklich war, schien niemand zu wissen. Ihr Gesicht war durchsetzt von Falten und tiefen Furchen, ihre grauen Augen lagen tief in den Höhlen, aber sahen klar und wachen Verstandes in diese Welt. Die etwas zu lang geratene Nase erweckte auf den ersten Blick den Eindruck von Strenge, der aber in kürzester Zeit von Grandmas freundlichem Wesen verdrängt wurde.
Durch den im rustikalen Wohnstil eingerichteten Wohnraum hindurch traten sie auf die Veranda. Die Sonne stand genau an ihrem höchsten Punkt. Zum Glück spendete das Vordach reichlich Schatten.
Tatsächlich standen bereits Schokoplätzchen und Limogläser mit Eiswürfeln darin auf dem Tisch. So als hätte Grandma ihr Kommen vorausgeahnt. Solche Dinge verwunderten die Kinder schon gar nicht mehr, sie erlebten Derartiges öfter. Die Geschwister nahmen Platz und griffen eifrig nach den Süßigkeiten, die sich langsam aber stetig in der Hitze verflüssigten. Grandma ging zurück ins Wohnzimmer und kam mit einem Spielekoffer in der Hand wieder zum Vorschein.
»Erzählst du uns denn heute keine von deinen gruseligen Geschichten, Grandma?«, fragte Tom enttäuscht.
»Doch nicht bei diesem strahlenden Wetter. Seid mir nicht böse, aber bei dieser Schwüle fiele es mir schwer in die passende Stimmung zu kommen. Sie kämen nie recht zur Geltung«, erklärte Grandma lächelnd.
»Hattest du wieder mal eine Vision, Grandma?«, fragte Judy neugierig. Die alte Dame schaute dem Mädchen in die eindrucksvollen blauen Augen. Die blonden Haare und das milde Gesicht verliehen ihr das Aussehen eines Engels.
Sie ist noch so jung, dachte die alte Frau, aber auf eine seltsame Art wirkt sie schon sehr weise. Dieses Kind ist so anders.
»Au ja, vielleicht passiert in Tretmond schon bald etwas Aufregendes, oder Dad hat Glück im Lotto und wir werden alle steinreich.«
Dorothea lachte laut auf und fuhr Tom wild durch seine wirre Lockenpracht.
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