Reuben muss gewusst haben, dass es sich nicht um denselben Goldstein handelte. Trotzdem blieb er weiter in Baril. Er hatte sein Zimmer für sechs Wochen gemietet.»
«Warum sollte er so etwas Widersinniges tun?»
«Genau das ist es, was ich herauszufinden versuche.»
«Vielleicht schreckte er nur davor zurück, seinen Irrtum einzugestehen?»
«Das wäre nicht Reubens Art.» Faber schüttelte den Kopf. «Ich kannte ihn gut genug. Er hatte zwar persönliche Schwierigkeiten in letzter Zeit, aber dabei ging es nicht um seine Qualifikation. Wir haben viele Jahre lang in der Spionageabwehr zusammengearbeitet.
Angeblich bestätigte sich der Verdacht gegen Goldstein. So lauteten jedenfalls seine Berichte nach Köln. Es war das letzte, was wir von ihm hörten.»
«Meines Wissens gibt es hier überhaupt keine Guerillas. Die Gegend ist fest in der Hand der Militärs.»
«Und der Todesschwadronen?» Faber blickte sie an, seine Stimme hatte einen herausfordernden Klang.
«Wenn Sie darauf anspielen, dass unsere Botschaft zu wenig Protest gegen diese Art der Unterdrückung einlegt …»
«Ich bin noch nicht lange genug hier, um mir darüber ein Urteil bilden zu können. Und ehrlich gesagt: Um Politik mache ich lieber einen Bogen. Sie nervt mich, weil sie wie ein Billardspiel ist. Nichts bewegt sich ohne Stoßen und Schieben.»
«Aber Sie beziehen doch Partei, wenn Sie für einen der westdeutschen Dienste arbeiten!»
«Ich betrachte mich mehr als Handwerker. Als eine Art Behördenhandwerker, der Fremdkörper aus nicht schließenden Türschlössern entfernt. Und in meinem Fall kommen sie zufällig von der anderen Seite.»
«Sie haben ja eine merkwürdige Art, den Ost-West-Konflikt zu verharmlosen.»
«Werden Sie das auch Ihren Vorgesetzten melden?»
«Ich melde niemandem etwas.»
«Sie sind doch als meine Aufpasserin abgestellt. An wen geben Sie Ihre Berichte? Das würde mich interessieren.»
«Reden wir lieber von etwas anderem. Was für Schwierigkeiten waren das, in denen Reuben steckte?»
«Korruptionsvorwürfe. Anonyme Briefe. Angeblich soll er für Geld die Fahndung gegen einige Linksextremisten eingestellt haben. Er war immer in Geldschwierigkeiten. Sozusagen der Normalzustand. Wie viele übrigens in den Diensten. Neigen alle dazu, etwas exzentrisch mit ihrem Einkommen umzugehen – vielleicht die Nerven! Hypotheken auf dem Haus, Erbschaftssteuer und so weiter. Aber ich glaube nicht, dass diese Geschichten für Ihre Ohren bestimmt sind.»
«Schließlich ist er tot.»
«Das entbindet mich nicht von meiner Schweigepflicht.»
«Und wenn es eine Verbindung zwischen Reubens Schwierigkeiten und dieser mysteriösen Namensverwechslung gibt?», fragte sie. «Oder seiner Ermordung?»
«Sieht ganz so aus, als ob er Goldsteins Arbeit in Guatemala nur als Vorwand für etwas anderes benutzt hatte.»
«Als Vorwand …» Sie blieb stehen und wandte sich fragend nach ihm um. «Woran denken Sie da?»
«Nichts Bestimmtes», sagte er. «Noch denke ich an gar nichts. Nein, ich habe wirklich keine Ahnung.»
Ross schloss bedächtig die Fahrstuhltür. Jemand aus der Abteilung «Experimentelle Dechiffrierung», ein kleiner Mann mit dem Gesicht eines Buchhalters und hochgeschobener Brille auf der Stirn, der einen Packen verschiedenfarbiger Blätter in den Händen hielt, trat bereitwillig zurück, als er Ross im Fahrstuhl erblickte.
Das Gefährt setzte sich ohne ihn in Bewegung. Ross gehörte nicht zu jenen, die auf den ersten Blick Sympathie hervorrufen, obwohl er sich selbst jederzeit Charme und einen ausgeprägten Hang zur Herzlichkeit bescheinigt hätte. Seine Gestalt war klein, übergewichtig. Der spärliche Haarkranz stach schwarz von der fast weißen Kopfhaut ab.
Was seine Gegenüber irritierte – bis sie entdeckten, dass er diesen Eindruck durch Verbindlichkeit und einen wachen Verstand wettzumachen wusste –‚ waren seine beinahe wimpernlosen Augen, die auf manche Betrachter so wirkten, als schielten sie leicht. Sein Augenarzt hatte ihm versichert, es sei nichts weiter als «eine Art Ungleichgewicht der Farbpigmente in der Iris».
Wenn ihn wie jetzt der Präsident des Amtes zu sich rief, pflegten sich seine Züge auf übertrieben scheinende Weise anzuspannen. Ein Gespräch außerhalb der routinemäßigen Berichterstattung bedeutete immer Ärger.
Das fast lautlose Aufwärtsgleiten des Fahrstuhls ließ die Stille überdeutlich werden. Hier oben waren die Korridore mit Teppichboden ausgelegt. Auch das Geräusch seiner eigenen Schritte lenkte ihn nicht ab.
Einzig der verchromte und an seinem Oberteil von perlendem Wasserdampf überzogene Kaffeeautomat in der Wandnische brachte seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde dazu, hoffnungsfroh innezuhalten, weil er Erleichterung versprach …
Aber die ungespülten Tassen auf dem Rost versetzten ihn sofort in die schmutzige Wirklichkeit zurück. Ross ging grußlos durch das Vorzimmer und drückte die Klinke, ohne der Sekretärin hinter dem Schreibtisch irgendeine Beachtung zu schenken.
Der Mann am Ende des langgestreckten Raumes wandte ihm seinen grauen Anzugrücken zu.
Er polierte mit einem Wolllappen den Silberrahmen einer Fotografie, die zwischen anderen in einem offenen Aufsatzschrank aus Mahagoni stand.
«Glauben Sie, es war eine gute Idee, Faber nach Guatemala zu schicken?», fragte er, wobei er weder mit dem Polieren innehielt noch Ross‘ Gruß abwartete. «Ausgerechnet jetzt, wo das mit seiner Freundin passiert ist?»
«Wir dachten, auf diese Weise sei er besser vom Eisernen Vorhang fernzuhalten – solange es keine Direktflüge von Guatemala City nach Ost-Berlin gibt.»
Der letzte Teil seiner Bemerkung hatte sarkastisch klingen sollen; aber der ungerührten Stimme des anderen nach zu urteilen, war es kein Erfolg.
«Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass Tiedges Flucht meinen Vorgänger das Amt gekostet hat?», fragte er und wandte sich nach ihm um.
Ross hätte nicht behaupten können, seine Miene wirke übermäßig besorgt. Im Gegensatz zu ihm selbst hatte er seine Gesichtszüge unter Kontrolle. Sie wirkten eher wächsern. Wie gut modelliert, aber mit zu wenig Farbe ausgestattet. Und vielleicht rechtfertigte genau diese Fähigkeit es, dass es zwischen ihnen unterschiedliche Kompetenzen gab.
«Er hat selbst den Wunsch geäußert. Nach dem heimlichen Treffen mit einem Anwalt aus Vogels Ostberliner Kanzlei hielt ich es für besser …»
«Weiß Faber, dass die Tochter seiner Freundin nach drüben gegangen ist?»
«Ich nehme an, noch nicht.»
«Da er versuchen wird, sie aus Guatemala anzurufen, kann es nur noch eine Frage von Stunden sein.»
«Man sagte mir, es sei zwei Tage nach Fabers Abflug passiert?», erkundigte sich Ross vorsichtig. «Dann bleibt uns noch etwas Zeit.»
«Sie ging mit Bekannten vom Bahnhof Friedrichstraße zu einem Tagesausflug hinüber. Von dort ist sie abends nicht mit ihnen zurückgekehrt. Wie ich hörte, ‘hängt Faber sehr an der Kleinen. Ich glaube, er hat sie an Tochter Statt angenommen … das alles gefällt mir überhaupt nicht, Ross.»
«Wir nehmen an, dass sie während der Untersuchungshaft in der Nähe ihrer Mutter sein wollte.»
«Das ist ein Punkt, der Faber wahrscheinlich mehr zu schaffen machen wird als alles andere – dass sie sich in der DDR versteckt hält, meine ich. Finden Sie heraus, bei wem sie wohnt. Sie ist doch erst dreizehn, verdammt noch mal …»
«Wir haben uns um Amtshilfe an die Kollegen der anderen Dienste gewandt. Ohne Ergebnis. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie von den ostdeutschen Behörden aufgegriffen wurde.»
«Überprüfen Sie ihre Freunde und Verwandten in Ost-Berlin.»
«Das wird nicht ganz einfach sein.»
«Nicht einfach.., sicher nicht.» Die Hände des anderen drehten den Putzlappen zum Strick und ließen sein Ende unvermittelt springen. «Wann ist es das schon?»
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