Ob er Arnulf heiße, fragte dieser ihn und kratzte sich dabei seine unrasierten Wangen. Er habe eine Nachricht für ihn, plapperte er weiter, ohne eine Antwort des Werwolfs abzuwarten. Missgelaunt hatte Arnulf seine Identität bestätigt, da er es hasste, bei einer Beschäftigung gestört oder unterbrochen zu werden. Ohne ein weiteres Wort hatte der schmierige Typ ihm einen gefalteten Metica auf den Tresen hingelegt. Unmittelbar darauf verließ der Atlant die Bar. Als Arnulf den Bildschirm aufklappte, wurde sofort ein Scan an ihm durchgeführt. Dann tauchte die Nachricht auf.
„Du kannst mich jederzeit in meiner Heimat besuchen“, hatte Arnulf John als Antwort geschrieben.
Kaum hatte der Werwolf diese Mitteilung abgeschickt und sich wieder seinem ursprünglichen Vorhaben, einer Flasche Silberwurz, zugewandt, als ihm ein leises Piepsen vom Metica signalisierte, dass er schon eine Rückantwort bekommen hatte.
„Komm sofort nach Miris. Wir treffen uns im Hain im Tempel des Karnonos nach Sonnenuntergang in genau drei Tagen“, hieß es in der Nachricht von Rasbury.
Jetzt war Arnulf im Tempel des Karnonos. Die Sonne war schon untergegangen. Und es war auch der dritte Tag seit dieser seltsamen Post. Doch John war nicht da und es gab nur wenige Dinge, die den Werwolf so ärgerten, wie auf jemanden zu warten, der sich verspätet hat. Er verfluchte den unpünktlichen Schattenmann. Doch seine zur Wut gesteigerte Ungeduld wurde von einem plötzlichen Geräusch, das aus der Richtung des Eingangs kam, abgelenkt. Aufmerksam spitzte Arnulf seine Ohren. Jemand lief den Gang entlang zum Garten hin. Auch Stimmen waren zu hören.
„Sie haben nicht gespendet!“, rief jemand aufgebracht und schien dabei eine andere Person zu verfolgen.
„Arnulf? Bist du hier?“, kam es von dem Verfolgten.
Ehe der Werwolf auf diesen Ruf antworten konnte, stolperte schon John, immer noch als junger Ase getarnt, in den Garten. Dicht hinter ihm verfolgte ihn der Tempeldiener, der den Schattenmann vergeblich zu fassen versuchte. Mit Müh und Not hielt sich Rasbury den erzürnten Torwächter auf Distanz, während er gleichzeitig nach Arnulf Ausschau hielt. Dieser hatte das Schauspiel mit Verwunderung von der anderen Seite des Gartens aus beobachtet. Als John endlich den silbergrauen Werwolf entdeckte, stieß er einen Ruf der Erleichterung aus.
„Endlich! Da bist du ja“, keuchte er, während er auf ihn zulief.
Argwöhnisch blickte Arnulf den ihm zunächst fremden Asen an, welcher erschöpft, aber breit lächelnd auf ihn zukam. Als der Fremde schon kurz davor war, ihn zu umarmen, witterte er die ihm vertraute Duftnote. Schnuppernd erkannte er an dem Geruch John. Doch noch ehe Rasbury ihn begrüßen konnte, hatte der Tempeldiener ihn eingeholt und von hinten am Kragen gepackt.
„Jetzt habe ich dich“, rief dieser.
„Arnulf, hilf mir!“, sah John den Werwolf gebeugt von der Seite an.
Der Wächter war schon dabei, den Asen aus dem Garten herauszuzerren, als Arnulf ihn dabei aufhielt.
„Warum darf er nicht in den Tempel?“, fragte er ihn.
„Er hat nicht gespendet.“
„Ich habe kein Kleingeld“, erklärte sich John entschuldigend.
Schlecht gelaunt langte der Werwolf in seine Reisetasche und schaute, ob sich noch einige verirrte Talente in dieser finden ließen. Glücklicherweise konnte er noch zwei, drei Geldstücke ausfindig machen.
„Ich zahle für ihn“, sagte er und reichte dem Tempeldiener eine kleine Gabe von ein paar Bronze-Talenten.
Ohne ein Zeichen von Freude oder Dank steckte der Walla die Spende ein und ließ Rasbury frei.
„Danke!“, sagte der Schattenmann.
„Vergiss es“, brummte Arnulf nur und ging zurück zu dem Felsen, von dem aus er vorhin schon die Sterne beobachtet hatte.
Folgsam lief John hinterdrein und wartete ab, bis der Werwolf es sich wieder auf dem Stein bequem gemacht hatte. Nachdem Arnulf endlich wieder die richtige Sitzposition eingenommen hatte, begutachtete er den vor ihm stehenden jungen Asen von Kopf bis Fuß.
„Jetzt erklär mir, warum du ein Ase bist“, befahl er.
„Das ist nur Tarnung. Siehst du?“, erwiderte John und bediente kurz seinen Portabile, so dass für kurze Zeit sein wahres braunes Gesicht anstelle des weißen des Asen zu sehen war.
Als der Werwolf verstanden hatte, gab er ein grunzendes Lachen von sich.
„Wozu diese Verkleidung?“, fragte er weiter.
„Weil der Nachtdienst hinter mir her ist“, erklärte Rasbury. „Außerdem ist ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt.“
Tief vor sich hin brummend blickte Arnulf den Schattenmann für eine Weile an, ohne ein Wort zu sagen.
„Warum sucht dich der Nachtdienst?“
„Ich habe etwas aus dem Archiv genommen“, antwortete John.
„Genommen? Du meinst wohl gestohlen?“, korrigierte ihn der Werwolf. „Was genau hast du gestohlen?“
„Das hier“, sagte Rasbury und zeigte ihm den Ring, der noch immer an seiner rechten Hand steckte.
Es war noch derselbe ordinäre Silberring mit dem blauen Edelstein aus dem Geheimen Archiv. Allerdings ging von dem Stein, seitdem John ihn am Finger trug, ein leichtes Funkeln aus. Trotzdem wirkte der Ring auf den Werwolf ziemlich unspektakulär. Zweifelnd betrachtete er abwechselnd das Schmuckstück und den Schattenmann.
„Deswegen ist der Nachtdienst hinter dir her? Das ist doch nur ein Ring“, meinte Arnulf und wandte desinteressiert den Blick ab.
„Es ist ein besonderer Ring“, erwiderte John.
„Ist es etwa der Ehering des Tyrannen von Atlantis?“, fragte der Werwolf und lachte dabei laut über seinen eigenen Witz.
John strich über den Edelstein und suchte nach einer Antwort, während Arnulf noch immer amüsiert grunzte.
„Nein“, sagte Rasbury. „Dies ist ein Sternenspringer-Artefakt.“
Augenblicklich wurde der Werwolf still und starrte den Ring an.
„Ein Sternenspringer-Artefakt? Du machst Witze, oder?“, fragte er, wobei er John ungläubig in die Augen blickte.
„Ich sage die Wahrheit“, erwiderte Rasbury.
Schwer schluckend versuchte Arnulf diesen Gedanken zu verarbeiten. Er überlegte, was das für ihn zu bedeuten hatte. Vor allem war er jetzt begierig zu erfahren, was der Schattenmann damit vorhatte.
„Wenn das wahr ist, verstehe ich, warum der Nachtdienst hinter dir her ist“, sagte er ganz leise.
Misstrauisch schaute der Werwolf zuerst zu der verwaisten Felsplatte des Karnonos und dann ringsum in den Garten. Sie beide waren allein. Kein Lüftchen rührte sich und kein anderes Geräusch war zu hören als die Nachtklänge des Waldes.
„Aber du wolltest doch nur einen Stein der Weisen auslesen. Warum klaust du dann ein Sternenspringer-Artefakt?“, begann er jetzt flüsternd. „Was hast du überhaupt mit dem Ring vor?“
„Das will ich dir sagen“, erwiderte John, „ich will das Ding loswerden.“
„Was?“, rief Arnulf ungläubig, wobei er etwas lauter geworden war, als ihm selbst lieb war. Erschrocken über seinen Schrei hielt er sich sofort mit den Pranken das große Maul zu. Nach einer Weile, als er prüfend die Umgebung abgehorcht hatte, begann er wieder zu flüstern.
„Du meinst, du willst den Ring auf dem Schwarzmarkt verkaufen?“
„Nein. Ich meine es so, wie ich es gesagt habe. Ich will den Ring loswerden“, sagte John ernst.
Verständnislos blickte der Werwolf zu Rasbury.
„Es ist folgendermaßen“, versuchte der Schattenmann zu erklären. „Seit ich den Ring im Archiv aufgesetzt habe, lässt er sich nicht mehr abnehmen. Ich habe schon alles probiert, aber ohne Erfolg, wie du siehst.“
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte Arnulf.
„Soweit ich herausgefunden habe, ist der Ring eine Art Schlüssel.“
„Wie hast du das herausgefunden? Und was meinst du mit Schlüssel? Für was?“
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