Vorsichtig schob Rasbury den stechenden Ast eines dichten Dorngestrüpps, welcher ihm den Weg versperrte, zur Seite. Vor ihm lag nun der Tempel des Karnonos. Anders als tagsüber, wo das Heiligtum von der Sonne hell beschienen wurde, brütete das dunkle Gemäuer nun vor sich hin. Doch soweit er es erkennen konnte, hatte sich der Tempel seit seiner Kindheit kaum verändert. Es war noch immer das alte Bauwerk, welches von Moos und Ranken überwuchert wurde. Wie beim ersten Mal, als er von seinem Vater im Alter von elf Jahren dorthin begleitet worden war, erinnerte das Gebäude ihn an eine umgestülpte Schüssel. Nur am Tor brannte als einzige Lichtquelle eine Fackel.
Rendezvous mit einem Werwolf
Als John die Pforte erreichte, trat aus deren Schatten ein junger Tempeldiener ins Licht der Fackel und somit Rasbury in den Weg. Zuerst glaubte der Schattenmann den alten Druiden, dem er vorhin begegnet war, wieder vor sich zu haben. Allerdings erkannte er, dass ihn die Dunkelheit und seine Augen täuschten. Bei aller Ähnlichkeit hatte der Bart des Tempeldieners noch das wallatypische Grün und noch nicht das Altersgrau eines Druiden erreicht.
„Was ist ihr Begehr, mein werter Freund?“, fragte der Torwächter freundlich und verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor John.
„Ich suche einen alten Bekannten. Er …“
„Wahre Freundschaft ist eine sehr langsam wachsende Pflanze“, unterbrach ihn der junge Mann und schaute ihm dabei erwartungsvoll in die Augen.
„Wie bitte?“, fragte Rasbury, irritiert über diese Unterbrechung.
„Alles wird einem gelingen, sofern er den richtigen Willen hat“, antwortete der Tempeldiener und hielt dabei dem nächtlichen Besucher eine Opferschale hin.
John kratzte sich am Hals und wandte den Blick von seinem Gegenüber ab, als er das eigentliche Begehr des Wächters erkannte. Sein letzter Besuch einer Tempelanlage lag schon einige Zeit zurück, so dass er völlig vergessen hatte, wie versessen die Tempeldiener auf Spenden waren. Er durchsuchte seine Taschen, in der Hoffnung, Kleingeld oder etwas von gleichwertigem oder zumindest symbolischem Wert zu finden. Zu seinem Unglück stieß er auf ein paar Gold- und Silber-Talente in seiner rechten Jackentasche, welche sofort ein verlockendes Klimpern von sich gaben und somit die Aufmerksamkeit des Wächters erregten. Mit geweiteten Augen schielte jener auf die Jackentasche, aus welcher der verheißungsvolle Klang kam. Leider benötigte John diese Talente aber für den Rückflug nach Atlantis. Außerdem waren sie als Opfergabe viel zu hoch, doch etwas anderes von geringerem Wert trug er dummerweise nicht bei sich. Erneut hielt der Tempeldiener ihm die Opferschale hin, begleitet von einem weiteren frommen Spruch.
„Glück denen, die freigiebig sind.“
Doch John fühlte sich in diesem Moment unglücklich. Zögernd offenbarte er dem Wächter sein Dilemma, indem er die Talente aus seiner Tasche vorzeigte, in der Hoffnung, dass dieser sein Problem ohne weitere Erklärung erkennen würde und ihn trotzdem passieren ließe.
„Sie verstehen doch sicherlich, ich …“, begann Rasbury entschuldigend.
„Geld ist nur Ballast“, unterbrach ihn der Druide wieder.
„Aber ich brauche dieses Geld noch für meinen Rückflug“, erwiderte John flehend.
Die zuvor noch freundliche Miene des Tempeldieners veränderte sich nach dieser Antwort in eine steife, grimmig dreinblickende Maske.
„Gier macht einen blind“, gab er nun belehrend von sich, „und versperrt einem nicht selten den Weg.“
Bei diesen Worten stellte er sich demonstrativ in die Mitte des Tors, wo er mit verschränkten Armen gleich einer Statue verharrte.
Hilfesuchend blickte John sich um, doch außer dem sturen Wächter war niemand zugegen, der ihm in seiner misslichen Lage hätte helfen können. In seiner Not versuchte Rasbury sein Anliegen nochmals zu formulieren.
„Bitte. Ich habe mich hier mit einem Werwolf …“
„Ein Werwolf?“, fiel ihm der Wächter ins Wort und blickte nachdenklich in den Sternenhimmel.
Abwartend, ob noch ein Spruch oder eine Bemerkung kommen würde, betrachtete John den grübelnden Walla. Doch dieser antwortete nur: „Das ist wahrlich eine ungewöhnliche Bekanntschaft.“
Als er sich sicher war, dass der Tempeldiener nichts mehr zu sagen hatte, versuchte der Schattenmann es mit einer weiteren Frage. Wobei er dieses Mal darauf achtete, sie so kurz und präzise wie möglich zu stellen, damit der Wächter ihn nicht wieder unterbrechen könnte.
„Ist Arnulf hier?“
Wieder begann jener, über die Frage sinnierend, in den Nachthimmel emporzublicken. Und erneut bekam John nur eine unbefriedigende Antwort.
„In diesem Tempel befinden sich viele Wesen. Darunter vielleicht auch jemand mit diesem Namen. Doch …“
„Ich weiß. Aller guten Dinge sind drei. Verehrt die Götter und sie wollen eine kleine Spende. Ich weiß!“, störte nun John entnervt den Tempeldiener bei seinen Ausführungen.
„Darf ich nicht einfach in den Tempel? Ich werde meinen Freund auch ohne Ihre Hilfe finden“, stieß er aus.
John erwartete, dass der Walla wieder erst Bedenkzeit für seine Antwort brauchte, wurde jedoch prompt mit einem klaren „Nein!“ abgewiesen.
Während sich der Schattenmann vor dem Tempel mit dem starrsinnigen Torwächter abplagte, erwartete im Inneren der Anlage der Werwolf Arnulf schon ungeduldig dessen Kommen. Auf einem Felsen saß er im Garten der Gottheit Karnonos und betrachtete mit seinen blutroten Augen die Sterne. Der Garten lag im Zentrum des Tempels, wo die Kuppel sich öffnete, so dass das Tageslicht in die Räumlichkeiten des finsteren Baus gelangte. Doch dies war nicht der einzige Grund, aus dem hier ein Garten angelegt worden war. Sofern man von einem Garten im herkömmlichen Sinne sprechen kann, da hier nur wild allerlei Pflanzen wucherten. Der Hauptgrund für die Beschaffenheit dieses Raumes oder Platzes und überhaupt dafür, einen Tempel zu errichten, war jener, dass sich hier die Planetengottheit Karnonos aufhielt oder an dieser Stelle angesprochen werden konnte. Solche Orte sind äußerst selten und werden immer in ihrer ursprünglichen Natürlichkeit belassen. Doch im Augenblick befand sich nur der silbergraue Werwolf im Garten und der Ort, an dem normalerweise Karnonos anzutreffen war, eine roh behauene Felsenplatte unter einer alten Linde, war verwaist. Laut gähnend beendete Arnulf seine Sternenbeobachtung und blickte untätig zu dem Göttersitz.
Warum ihn John nach wochenlangem stillschweigen endlich sehen wollte, war ihm ein Rätsel. Genauso war ihm auch unklar, warum er ihn ausgerechnet an diesem Ort treffen wollte. Soweit sich der Werwolf erinnern konnte, war John nie spirituell gewesen. Oder den Göttern zugewandt. Erst recht nicht hatte er ihnen geopfert oder sie aufgesucht. Und genauso wenig hatte Arnulf viel Sinn für die religiösen Praktiken seiner Zeit.
Doch abgesehen von der merkwürdigen Ortswahl ihres Treffens war doch die Frage, was Rasbury von ihm wollte. Die Nachricht, die der Werwolf von seinem alten Bekannten bekommen hatte, war ja schon knapp und nichtssagend gewesen und hatte einen merkwürdigen Eindruck auf ihn gemacht. Es war eine einfache Textmitteilung, in der es nur hieß: „Muss mit dir dringend reden. Ich brauche dich.“
Wie diese Botschaft ihn jedoch erreicht hatte, war noch ungewöhnlicher gewesen. Arnulf befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Fortuna-Mond Victoria, der berühmt für seine vielen Kampfsport-Arenen war. Er selbst hatte mehr oder weniger erfolgreich einige Kämpfe bestritten, nachdem Rasbury ihr ursprüngliches Treffen in Atlantis abgesagt hatte. Eigentlich wollte er den Mond schon verlassen, trotz Johns Warnung. Die Nacht vor seiner Abreise verbrachte er in einer heruntergekommenen Kneipe direkt am Raumhafen. Sein Plan war es, all sein gewonnenes Preisgeld zu vertrinken. Er hatte schon einen Gutteil seines Gewinns intus, als ihn plötzlich ein schwerbauchiger Atlant ansprach.
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