Trotz ihrer Bemühung, nicht einzuschlafen, merkte sie, wie ihr Atem flacher wurde. Dann wurde es plötzlich ganz still um sie herum, die Musik war verstummt. Was war passiert? War endlich jemand gekommen und hatte sie ausgestellt? Ermutigt von diesem Gedanken und obwohl es ihr so schrecklich schwerfiel, schaffte sie es, die Augen zu öffnen. Tatsächlich erblickte sie die Silhouette eines Mannes, der genau im Scheinwerferlicht neben dem Baum vor ihrem Auto stand. Da er ein ganzes Stück entfernt stand, konnte er das Radio nicht ausgestellt haben. Gleichzeitig verrieten ihr die Scheinwerfer, dass mit der Batterie ihres Autos alles in Ordnung war. Warum also war das Radio so plötzlich ausgegangen? Seltsam. Und wieso stand der Fremde nur da herum, wenn doch offensichtlich war, dass sie verletzt war und dringend Hilfe benötigte? Sie betrachtete ihn genauer. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, der das meiste seines Körpers verhüllte. Seine Umrisse verrieten dennoch, dass er groß war und gut gebaut sein musste. Sein Gesicht lag halb im Dunkeln, doch als er einen Schritt näher kam, konnte sie seine markanten Züge erkennen, die von dichtem, schwarzem Haar eingerahmt wurde. Er war attraktiv, viel zu attraktiv für einen Menschen. Obwohl sie es sich nicht erklären konnte, sorgte sein Anblick dafür, dass sie eine Gänsehaut bekam. Sollte sie sich über seine Anwesenheit freuen oder sich ängstigen? Schenkte man dem Fernsehen glauben, sollte man sich von düsteren Gestalten nachts im Wald fernhalten, aber auf der anderen Seite war er die einzige Hoffnung, die sie hatte. Diese Landstraße wurde nie viel befahren und bei einer solchen Herbstnacht sicherlich zusätzlich gemieden. Trotzdem verdrängte sie ihre Gedanken und konzentrierte sich auf das, was gerade wirklich wichtig war: Sie brauchte Hilfe. Als er langsam näher kam, besann sie sich schließlich und versuchte ihre Stimme wiederzufinden. Diese klang zunächst brüchig, wurde dann aber deutlicher.
„Können Sie mir helfen? Bitte. Ich kann mich nicht bewegen. Können Sie den Notarzt rufen?“, brachte sie mit allerletzter Kraft hervor.
Der Mann blieb direkt vor ihrer Beifahrertür stehen und sah sie verständnisvoll aus wunderschönen, fast schwarzen Augen an. Jetzt, da er so nah kam, konnte sie endlich sein Gesicht sehen. Der Anblick traf sie wie ein Schlag. Er war wunderschön, jeder Gesichtszug vermittelte Macht und Stärke. Als ein Windhauch eine Strähne seines pechschwarzen Haares anhob, wirkte es fast, als sei er wie ein griechischer Gott einem antiken Gemälde entsprungen. Allerdings machte er keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Das irritierte sie zutiefst. Hatte er sie etwa nicht verstanden? Das konnte eigentlich nicht sein, denn nun, da die dröhnende Musik aus war, hatte man ihre Stimme sicher deutlich hören können. Außerdem konnte man doch unzweifelhaft sehen, dass sie verletzt war. Wieso sagte er nichts? War er nur hier, um sich an ihrem Schmerz zu erfreuen? Wollte er ihr beim Sterben zusehen? Aber sie würde nicht sterben, denn sie wollte leben! Sie versuchte es noch einmal.
„Bitte. Ich brauche wirklich Hilfe.“ Eine Welle der Erschöpfung durchfuhr sie und ließ sie erzittern.
Der Fremde strich sich in einer überirdisch elegant wirkenden Geste das Haar aus der Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich bin ja da.“
Seine tiefe männliche Stimme hüllte sie ein wie ein warmer Mantel. Sie war viel zu erschöpft, um weitere Fragen zu stellen. Nicht einmal Panik konnte sie empfinden, denn auch das hätte sie zu viel Kraft gekostet, Kraft, die sie brauchte, um die Augen offen zu halten. Doch sie musste auf jeden Fall wach bleiben! Sie musste noch etwas länger durchhalten. Es würde bestimmt bald jemand kommen, der ihr half.
„Es ist Zeit loszulassen“, fuhr der Fremde plötzlich fort und seine Stimme klang sanft, aber bestimmt. Sein Tonfall berührte etwas tief in ihr. Aber loslassen? Was meinte er damit? Sie hielt doch überhaupt nichts fest! Seine Worte verwirrten sie vollends. Sie blickte ihn fragend an und er erwiderte ihren Blick, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Vom Leben. Du musst jetzt dein Leben loslassen.“
Hätte sie gekonnt, sie hätte jetzt vehement widersprochen. Was redete er da für einen Unsinn? Sie wollte ihr Leben nicht loslassen, denn sie liebte das Leben und sie war doch noch viel zu jung zum Sterben. Und wer war er, dass er darüber bestimmten konnte, wann es Zeit für sie war, zu gehen? Noch gab es Hoffnung, noch war nichts verloren.
„Ruh dich aus, schlaf ein“, bat er sie dann. Es war wie ein Flüstern, das sachte an ihr Ohr drang und verführerisch ihr Innerstes umschmeichelte. „Es ist schon zu spät für dich. Du musst aufhören gegen das Sterben anzukämpfen. So machst du es dir nur noch schwerer. Vertrau mir, bitte.“
„Hör auf so einen Unsinn zu reden und hol Hilfe“, wisperte sie kaum noch hörbar und blanke Angst keimte wieder in ihr auf. Ständig fielen ihre Augen zu, doch jedes Mal schaffte sie es, sie erneut zu öffnen. Sie blickte in sein vollkommenes Gesicht. „Ich schaffe das, du musst mir nur helfen.“
„Ich helfe dir, es ist ganz einfach“, antwortete er und eine Prise Ungeduld schien in seinen Worten mitzuschwingen. „Du musst dich einfach fallen lassen.“
In der Zeit, in der sie miteinander sprachen, war er ihr so nahe gekommen, dass er sie hätte berühren können. Doch er wollte, dass sie von sich aus aufgab. Aber es gab immer noch keine Anzeichen dafür, dass sie endlich aufhören würde zu kämpfen, aufhören würde, sich ans Leben zu klammern. Er musste ihr wohl helfen. Als er schließlich die Hand nach ihr ausstreckte und sanft über ihre Wange strich, schreckte sie nicht zurück. Von der Stelle aus, an welcher er sie berührte, breitete sich eine tröstliche Wärme in ihrem Körper aus. Auf einmal wurde sie ganz ruhig und sie spürte einen angenehmen Frieden in sich, so als ob es in Ordnung wäre, was hier gerade passierte. Ihre Müdigkeit war auf einmal verschwunden und schon mit dem nächsten Augenaufschlag fand sie sich in seinen Armen wieder. In diesen starken, männlichen Armen, die Schutz und Geborgenheit versprachen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er sie aus dem Auto gehoben hatte. Wie hatte er das geschafft? Ihre Beine waren doch eingeklemmt und der Ast in ihr verkeilt gewesen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie auch ihren Kopf wieder bewegen konnte und ihr Blick fiel auf das Auto, in dessen Innern sie mit geschlossenen Augen lag. Ihr Körper bewegte sich nicht mehr, kein Augenflattern, keine Atmung. Aber das konnte doch gar nicht sein! Wie sollte sie sich denn an zwei Orten gleichzeitig befinden? Sie blickte zu ihm hinauf, denn erst jetzt verstand sie, was gerade geschehen war. Er fühlte sich warm und stark an, ganz anders als man es vom Tod erwarten würde. Und er war so schön, dass man seinen Anblick kaum ertrug.
Jetzt erwiderte er ihren Blick mit einem sanften Lächeln und versprach ihr:
„Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.“
Seltsamerweise machte sie sich gar keine Sorgen, denn sie fühlte sich frei und unbeschwert. Ja, alles würde gut werden. Das hatte sie gehofft, daran hatte sie festgehalten und dessen war sie sich nun sicher. Noch bevor sie irgendwelche Fragen stellen konnte, verschwand er mit ihr in der Dunkelheit, aus der er gekommen war.
Karolina schreckte zusammen, als ihr plötzlich das Glas aus den Händen rutschte und mit einem lauten Klirren auf dem Boden landete. Es zersprang in tausende schimmernde Scherben. Sie konnte von Glück reden, dass sich nur noch ein letzter Schluck Wasser darin befunden hatte, denn ansonsten stünde sie nun in einer riesigen Pfütze. Schnell griff sie in den Schrank unter der Spüle, um den Handfeger herauszuholen und die Splitter aufzufegen. Eigentlich sah ihr so ein Ungeschick gar nicht ähnlich, denn als Violinistin musste sie stets eine ruhige Hand haben. Doch heute war ein ganz besonderer Tag – sie hatte ein Vorspielen für die erste Geige bei einem Engagement an der Oper in Sydney. Obwohl Karolina seit dem fünften Lebensjahr Geige spielte und aktuell eine hervorragende Anstellung im SFSO – dem San Francisco Symphony Orchestra – besaß, und in den letzten Wochen fast ununterbrochen geübt hatte, war sie sehr nervös. Mit diesem Engagement würde ein Wunschtraum für sie in Erfüllung gehen. Sie könnte San Francisco und damit ihr kleines Loft in Haight-Ashbury endlich verlassen.
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