Die Zeitung umblätternd warf er einen Blick auf seine Tochter, die kunstvoll in das fingerdick bestrichene Schokoladenbrötchen biss. Dabei quillte die braune Masse soweit heraus, dass diese an ihren Mundwinkeln kleben blieb.
“Musst du dir das Brötchen so vollklatschen?", fragte er kopfschüttelnd.
"Schmeckt mir eben …", kam es undeutlich aus einem prall gefüllten Mund. Dabei stopfte sie das letzte Stück mit dem Finger nach. Brummend las er weiter. Sich die Finger sauber leckend sagte Claudia: "Ich freue mich schon auf heute Abend. Wird ne' richtige Party. Habe mir schon alles aufgeschrieben, was ich brauche."
Für Claudia war es das einzige und wichtigste Thema in dieser Woche. Mal eine richtige Party zu veranstalten mit all ihren Freunden und Freundinnen. Ohne Erwachsene versteht sich. Diesen Störfaktor, wie Claudia es nannte, musste sie sich noch entledigen. Charmant und möglichst unauffällig. Herr Latros las unbekümmert weiter. Claudia wartete ein paar Sekunden auf eine Reaktion. Doch es kam nichts. Schweigend blätterte er die Zeitung weiter.
"Du hörst mir ja gar nicht zu!", bemerkte sie ärgerlich.
"Natürlich höre ich zu", log ihr Vater. Die Zeitung zur Seite legend fragte er: "Wann soll es denn losgehen?"
"20 Uhr", antwortete sie knapp und nahm ein Schluck Milch, um ihren Bissen herunter zu spülen.
"Ich dachte, dann wäre sie zu Ende?"
"Aber Paps, das ist doch kein Kindergeburtstag mit Blinde Kuh und Topfschlagen", lachte Claudia, als gehörten derartige Kindereien längst der Vergangenheit an.
"Na, so alt bist du nun auch wieder nicht", schlichtete er amüsiert ab. Lächelnd goss er sich den Kaffee in den Becher.
"Ich bin jetzt fünfzehn und nach dem Gesetz voll jugendlich. Alle aus meiner Klasse ziehen ne' heiße Fete ab."
"Wen hast du denn alles eingeladen?", wollte Herr Latros wissen. Claudia zählte eine Reihe von Namen auf, von denen lediglich Floh, Biene und Sven ein Begriff waren. Mit Kojak, Schlappi, Biggi, Caro, Nicki und Nervi konnte er überhaupt nichts anfangen und ersparte sich die Frage, nach deren tatsächlichen Identität. Claudias Freunde und Freundinnen, mit Ausnahme von Florian und Sven, kannte er nur flüchtig.
"Die willst du alle in deinen Zimmer unterkriegen?", staunte er mit hochgezogenen Augenbrauen, "Da musst du ja notgedrungen aufräumen. Nur schade, dass du nicht jede Woche Geburtstag hast, dann wäre dein Zimmer endlich mal vorzeigbar."
Claudia hatte nämlich die gleiche Eigenschaft wie Florian. Sie fing hundert Sachen an und ließ alles liegen. Wer ihr Zimmer betrat, könnte meinen, sie hätte weder Bügel noch Schränke. Herr Latros hatte es irgendwann aufgegeben, ihr die Ordnung beizubringen. Es kam regelmäßig zum Streit und nie endenden Diskussionen. Schweren Herzens gab er dem Argument seiner Tochter nach, die Tür einfach zuzumachen. Sie war der Meinung, dass sie das Zimmer ohnehin nur zum Schlafen brauchte. Essen tat sie in der Küche und Hausaufgaben erledigten sich im Wohnzimmer bei eingeschaltetem Radio und Fernseher besser. Außerdem war der Stubentisch immer schön leer. Anfangs jedenfalls. Am Ende durfte er dann Bonbonpapier, Kekse und Colaflaschen wegräumen.
"Das Problem habe ich schon gelöst. Wir feiern im Wohnzimmer. Habe ich schon alles mit Biene arrangiert“, erklärte sie, worauf er Unheil ahnend nachfragte: "Was arrangiert?"
"Schmücken, Umstellen und so weiter. Wir sind mindestens zehn Leute und die müssen bei Laune gehalten werden", sprudelte es aus ihr heraus, wobei sie sich ein weiteres Brötchen schmierte.
"Hier werden doch wohl keine Bau-und Stemmarbeiten durchgeführt?", scherzte Herr Latros und sah um, als wollte er sich den jetzigen Wohnungszustand einprägen, um diesen wieder in seinen Ursprung zurück zu versetzen.
"Keine Angst", beruhigte sie ihn, "ich bringe das wieder in Ordnung. Du kennst mich ja …"
"Eben weil ich dich kenne", konterte er, "bevor ich es vergesse, die Treppe ist heute dran."
Sie wollte gerade vom Brötchen abbeißen, ließ es aber wieder sinken.
"Mensch Paps, ich habe den Kopf voll. Ich muss das Zimmer herrichten, Biene anrufen, mich baden, meine Haare machen, Kojak bescheid sagen, dass er seinen Bruder …"
"Treppe machen dauert nur zehn Minuten", unterbrach Herr Latros und erinnerte sie, "letztes Mal hattest du Kopfschmerzen. Davor war ich offiziell dran und davor hast du dich mit Florian und Sabine verdrückt."
“Mal sehen, dass kriege ich schon in Griff", gab Claudia nach. Normalerweise wechselten sie sich mit dem Treppenhaus ab, aber in letzter Zeit blieb alles an ihm hängen. Claudia hatte noch nie durch Fleiß geglänzt und ihr Vater war sichtlich bemüht, diese Bequemlichkeit nicht noch zu unterstützen.
"Glaube ja nicht, dass du mich wieder daran kriegst“, prophezeite er.
"Ist ja gut", wehrte sie beruhigend ab, "hab 'doch gesagt, dass ich das im Griff habe."
Dieses Argument hatte er schon oft genug gehört. Am Ende war er es, der alles wieder richten musste, wenn sie dann mit feuchten Augen vor ihm stand und nicht weiter wusste.
Dann wurde es wieder still am Tisch. Herr Latros schmierte sich das letzte Brötchen, während Claudia noch etwas auf den Einkaufszettel schrieb. Die Wochenendeinkäufe waren ohnehin seine Aufgaben, weil er dafür den Wagen benötigte. Die Einkaufsliste war genau so lang wie sein Gesicht, was er machte, als er diese überflog. Da war nicht von Flaschen, sondern von Kästen die Rede. Chips und Salzstangen hätten eine ganze Kompanie gesättigt. Das einzige Gute daran war, es standen keine alkoholischen Getränke darauf und das war recht beruhigend.
"Wenn du heute Abend mitmachen willst, musst du dir natürlich noch Bier mitbringen", sagte Claudia, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Herr Latros hatte gar nicht vor sich zwischen das Junggemüse zu setzen. Aber das Wenn seiner Tochter wirkte indirekt ausladend. Sie fühlte, dass ihm der letzte Satz durch den Kopf ging. So direkt ausladen wollte sie ihn natürlich auch nicht.
"Das soll nicht heißen, dass ich dich nicht dabei haben will", fügte sie vorsichtshalber hinzu.
"Ich habe nichts gesagt."
"Aber gedacht", hielt Claudia dagegen. Sie griff tröstend seine Hand und streichelte sie. Herr Latros überkam das Gefühl, als hätte sie Mitleid mit ihm.
"Sie mal, du würdest dich bestimmt nicht wohlfühlen und meine Kumpels würden denken, du wärst mein Anstandswauwau. Du kannst doch mit Sabines Mutter ins Kino gehen oder so."
"Erinnert mich irgendwie an früher", sagte Herr Latros, “da habe ich den kleinen Bruder deiner Mutter auch immer Kinogeld gegeben, damit er verschwindet."
"Aber das ist doch nicht dasselbe!", lachte Claudia.
"Nö", gab er ihr Recht, "heute muss ich das Kino selbst bezahlen."
Bevor sie etwas darauf antworten konnte, drängte er zur Eile, damit nicht alles auf den letzten Drücker erledigt wurde.
Nachdem sie gefrühstückt hatten, half Claudia ihn, das Geschirr wegzuräumen. Den Abwasch überließ sie aus Zeitgründen, wie sie sagte, ihm. Nach einem kurzen Telefongespräch mit Sabine zog Claudia die Jacke an und stopfte sich Geld und Schlüssel in die Tasche.
"Bevor ich es vergesse", rief sie beim Hinausgehen, "Kojak kommt gegen eins, um deine Musikanlage durchzuchecken!"
Mit dem Geschirrhandtuch in der Hand sah Herr Latros aus der Küche. Doch die Haustür fiel schon ins Schloss, bevor er nachfragen konnte."Naja", dachte er bei sich, "dann lerne ich wenigstens Kojak kennen."
Minuten später stand Claudia vor Sabines Haustür und klingelte. Frau Hansel öffnete und gratulierte ihr mit einem Wangenkuss zum Geburtstag. Claudia bedankte sich und fragte im gleichen Atemzug nach Sabine.
"Im Zimmer", antwortete die Mutter und nickte sie herein.
"Hi Biene", grüßte sie knapp, worauf sie Sabine ebenfalls mit einer herzlichen Umarmung gratulierte. Dann stellte Sabine sich vor ihrem Schrank und sah suchend auf die hängende Garderobe. Claudia setzte sich auf das Bett. Sie erkannte das Problem und versuchte mit gut gemeinten Ratschlägen nachzuhelfen. Über den Sessel lagen Hosen, Röcke und Blusen, aber für nichts konnte Sabine sich entscheiden und stand noch immer in Strumpfhose herum.
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