Nun tat ich nichts davon und schaute nur auf den Haufen Münzen, welcher sich mir Präsentierte, und begann, sie nach und nach zusammenzuzählen.
Ich war gut in Mathe, aber dass Lou mich bei dieser unehrenvollen Aufgabe beobachtete, half mir nicht dabei – ich verzählte mich immer wieder.
„Pass auf“, sagte er und wischte das gesamte Geld mit einer Handbewegung vom Tisch in sein Shirt. Schrill klimpernd landeten die Münzen in der kleinen gebildeten Kuhle, ehe er sich auf den Boden kniete, um seinen kleinen Schatz auf diesem zu verteilen. „Ich helfe dir“, bot er breit grinsend an und fuhr mit seinen Fingern über um die Centstücke. Es war eigenartig, mit Lou dort auf dem Boden zu hocken, das Geld zu zählen, während Damien Rice mit „Volcano“ im Hintergrund lief.
Aber die eigenartigsten Tage waren gute Tage.
M e e r e s r a u s c h e n
Ich war spät dran, da ich den Weg nach Boise mehr im Stau stand, als dass ich mit dem Auto fuhr. Ferry hatte sich bereits in seiner einleitenden Rede verloren, als ich in den Raum platzte. Ich zerstach die Seifenblase aus Metaphern und philosophischen Höhen, als sein Siegerlächeln ins Wanken geriet.
Ich wollte mich leise und unsichtbar an meinen üblichen Platz setzten, doch Lou machte mir einen Strich durch die Rechnung: „Hey! Leigh!!" Seine Worte durchbrachen den Raum, während seine Arme wie wedelnde Spaghetti durch die Luft peitschten. Ferry verstummte, und die Blicke aller ruhten auf mir, als hätten sie mich zum ersten Mal wirklich bemerkt. Ich erwiderte zögernd Lous Gruß und hob die Hand.
Zur Belohnung schenkte er mir sein breites Grinsen, deutete mit einer einladenden Bewegung auf den Stuhl neben sich und nahm mir meine Tasche ab
Eilig schlängelte ich mich durch die Ansammlung von Stühlen und Beinen, welche wie Hindernisse in meinen Weg gestreckt wurden und ließ mich auf den freien Stuhl neben Emma sinken.
Die Ferrys Worte gerieten wieder ins Rollen und erstreckten sich über uns wie das wohlige Summen fleißiger Bienen.
„Wie geht’s?“, flüsterte Emma mir zu und schenkte mir ein Lächeln.
„Prima. Netter Tisch“, stellte ich fest und packte meine Sachen aus, während mein Blick aus dem Fenster glitt.
„Elefthería, oder?“
„Leigh ist mir lieber.“
„Freut mich“, und so banal die Aussage schien, in Emmas Stimme lag so viel Herzlichkeit, dass ich es ihr sofort glaubte.
Kühler und weniger herzlich durchbrach Elliotts Stimme die kurz aufkeimende Stille.
„Das Mädchen aus Mathwesfield. Wie kommt es, dass unser bescheidener Poet dir zwischen Kühen und Schafen über den Weg gelaufen ist?“ Elliott kritzelte weiter scheinbar ungeordnete Gedanken in das kleine Heft vor sich und hob zu keiner Zeit den Kopf, nicht mal als ich direkt angesprochen wurde.
„Pizzen werden jetzt wohl auch an den Pöbel geliefert. Damit war es nur eine Frage der Zeit, bis das Pizza-Castle seinen Weg nach Mathwesfield findet.“
„Pöbel? Ohne dich enttäuschen zu wollen, aber ich glaube nicht, dass du der Mensch bist, der du glaubst zu sein.“
Es erschien einfacher, sich gegen Worte eines anderen aufzulehnen, wenn die Blicke einen um Meilen verfehlten. Es war wie damals in der Grundschule, als ich mich bei
Vorträgen mit dem Rücken zur Klasse gestellt hatte. Mich umhüllte die sichere Illusion, alleine zu sein und zu mir selbst zu sprechen.
Und auch wenn ich mit Pöbel nicht mich, als vielmehr den kleinen Club gemeint hatte, an den Lou immer lieferte, ließ ich mich auf die Unterhaltung mit Elliott, aus eben diesem Standpunk ein.
„Wir kennen uns nicht. Mir erscheint es wagemutig von dir, mir eine Rolle zuzusprechen, welche deiner Meinung nach am ehesten meinem Wesen entspricht.“
Noch immer hob Elliott nicht den Blick, und ich war mir unsicher, ob es schiere Arroganz war oder an dem non-existenten Interesse gegenüber unserer Unterhaltung lag.
„Menschenkenntnis, gemischt mit der bescheidenden Gabe Menschen zu beobachten.“
„Es ist ein Leichtes, sich zu verstellen und eine Rolle zu spielen.“
„Wenn du von Rollen sprichst, dann erscheint mir eher die Frage angebracht, ob du tatsächlich bist oder nur meinst zu sein. Spreche ich dir eine Rolle zu, oder gibst du dich einer Rolle hin? Sind wir oder tun wir so, als ob? Ich schätze dieses Identitätsproblem werden wir wohl heute nicht mehr in den Griff bekommen.“
„Meinerseits oder deinerseits?“ Ein Lächeln, aber kein Blick für mich über und auch keine Worte.
Nach dem Kurs trafen Lou und ich uns am Abend erneut im Plattenladen. Er riet mir, mich nicht von Elliott provozieren zu lassen.
„Manche Menschen ecken gerne und bewusst an. Elliott stellt mit Vergnügen Beine und freut sich, wenn Menschen darüber stolpern.“ Lou zuckte die Schultern, als müsste er für das, was heute im Kurs passiert war, gerade stehen. Als wäre er mir gegenüber verpflichtet, eine Entschuldigung abzugeben. Doch das brauchte er nicht. Elliott war eigenartig, anders, und ich wusste nicht, ob ich achtsam oder interessiert sein sollte, sodass ich ebenfalls nur die Schultern zuckte und meine Meinung für mich behielt.
Obwohl der Kurs derselbe war und ich nur an einem anderen Tisch mit anderen Leuten saß, erschien mir alles anders.
Seien es Emma und Elliott, welche sich bei jeder Gelegenheit in willkürliche Diskussionen über Gott und die Welt stürzten oder Lou, der stets konzentriert wirkte, ehe er ein kleines Büchlein aus seiner Tasche fischte und mit einem Bleistift flüchtige Gedanken hinein kritzelte.
Flink und kratzend tänzelte der Stift über die leeren Seiten, die sich nach und nach füllten.
Lou hielt fest, was sonst der Vergänglichkeit ausgesetzt war und schuf so eine kleine Ewigkeit.
Doch es waren auch Kleinigkeiten wie mein Blick aus dem Fenster, welcher sich regelmäßig in den Wolken verfing und fortgetragen wurde – das nervöse Tippen von Emmas Fuß kurz vor Schluss oder wie der Zeigefinger von Elliott bedächtig und doch mit einer Note der Ungeduld auf dem Tisch tippte, während das Blau dieser unergründlichen Augen fast unbemerkt die Umgebung musterte.
Alles war anders, obwohl der Kurs der gleiche war. Und doch hatte sich durch meine Position und die Menschen in meinem Umfeld alles geändert.
Die Diskussionen und der Austausch in der Gruppe – auf einmal war meine Meinung gefragt, statt dass mir eine aufgezwungen wurde. So kam es, dass sich auch die nächsten Male meine Schritte zu Lou und den anderen wagten – zögernd, doch später mehr als selbstverständlich.
Ich wusste, dass Elliott gerne philosophierte – und zu teils sehr melancholischen Gedanken neigte. An schlechten Tagen und unter starkem Kaffeemangel galt es, diesen Menschen zu meiden – zumindest hatte ich diese Feststellung für mich gemacht. Elliott war dann besonders mürrisch, ließ Menschen gerne gegen die eigenen Kanten laufen und bekämpfte sie mit ihren eigenen Schwächen. Aber ebenso wusste ich, dass Elliott die Meinung anderer an guten Tagen zu schätzen wusste – zumindest wenn es nicht um die eigene Person ging. Für Elliott war dies ein Kurs, wo das Persönliche keinen Platz hatte.
Emma war da ein wenig anders. Sie war ein sehr herzlicher und offener Mensch, der sich jedes Mal freute, wenn sie mich sah. Bereits am zweiten Tag, den ich am Tisch von den dreien saß, hatte sie freudig meinen Namen gerufen und mich überschwänglich in die Arme geschlossen.
Das war nicht nur neu, sondern auch beirrend – aber ebenso auch einfach Emma.
Etwas, was Emma und Elliott teilten, war der Hang zu Kaffee und schnellen Dialogen, welche sich von Null auf Hundert in den Himmel steigerten, ehe sie jeglichen Halt und Boden verloren hatten.
Ansonsten zeichneten Emma nicht nur die etlichen Piercings aus, sondern auch ihr Hang zu sich häufig wechselnden Haarfarben.
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