Schule war täglich. Aber kein Ort, wo Momente von Bedeutung entstanden – nur ein Wimpernschlag.
Und somit war Hazel in Ordnung, da sie zum Alltäglichen gehörte – in genau dieser Kulisse.
Und wenn ich nachhause kam, dann konnte ich einfach Leigh sein.
Zuhause bedeutet leben.
Leben.
Mein Dad und meine große Schwester Evanthía – Èva – verstanden das. Sie sahen mich und erkannten mich auch.
Meine Mum hingegen schien besorgt und klagte oft: „Wieso gehst du nicht raus und unternimmst was? Genieße dein Leben!“
Dass ich das auf meine Weise tat, sah sie nicht.
Mir lag das Alleinsein – was nicht hieß, dass ich einsam war.
Nicht zuhause.
Nach Hazels Abgang warf ich meinen Rucksack hastig über die Schultern, umklammerte fest mein Buch und trat aus dem leeren Gebäude. Ich beeilte mich, das Gemäuer, den Hof und die Schule hinter mir zu lassen.
Die warme Luft brannte mir auf den Wangen. Der Sommer war heiß, unnachgiebig, und die Sonne leckte an meiner hellen Haut.
Ich lief schnell und hoffte auf ein kühles Lüftchen, wenn benachbarte Gärten ihren Rasen sprengten oder ich um eine Ecke bog und der Wind sich in dieser verirrt hatte.
Zuhause war es kühl. So schloss ich rasch die Tür, als ich in unser Haus trat und sog gierig die angenehme und erfrischende Luft.
„Hallo?“ Eine beschäftigt klingende Stimme hallte durch das sonst ruhige Haus, während ich ihr bis ins Zimmer meiner Schwester Èva folgte.
„Du packst?!“ Eine simple Feststellung, gepaart mit Verwunderung. Ich wusste, dass Èva gerne verreiste. Sie liebte es zu fliegen und ging in der Leidenschaft des Unbekannten auf.
Doch ich wusste nicht, dass sie so bald verreisen wollte, sodass ich irritiert den Inhalt des Koffers inspizierte.
„Delilahs Vater hat eine Hütte in Missoula, direkt am See, und sie hat sich irgendwie bei ihm einkratzen können und den Schlüssel bekommen.“ Mit einem breiten Grinsen warf Èva einen Bikini und drei Tuben Sonnencreme in den Koffer.
„Nimm lieber noch eine mit“, witzelte ich und tippte auf ihren blassen Arm.
Denn trotzdem wir drei fast ausnahmslos die philippinischen Züge unserer Mutter aufwiesen, hatten wir die blasse Haut von Dad geerbt. Dann und wann – wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel schien, erahnte man in meinen dunklen Augen einen Schimmer von dem Blau, das die friedlichen und glücklichen Augen meines Vaters ausmachte.
Und auch wenn ich mich bewegte wie mein Vater und beim Reden mit meinen Fingern und Händen genau wie er durch die Luft tanzte, wies ich sonst kaum eine Ähnlichkeit mit ihm auf.
Ich hatte langes dunkles Haar – genau wie meine Mom, wie Èva und Aria – während sein Haupt aschblondes, struppiges Haar zierte.
Im Sommer sah ich mich einer furchtbaren Kombination ausgesetzt; mit unserer viel zu blassen Haut boten wir ein gern gesehenes Ziel von Sonnenbränden, und mit den dunklen Haaren wurde es im Hochsommer viel zu heiß auf unseren Köpfen.
„Wenn du willst …“ Èva wog den Kopf hin und her und packte weiter ihren Koffer. Dieser war zwar schon völlig überfüllt, doch meine Schwester fand noch immer eine kleine Ritze, die genutzt werden konnte.
„Nein danke“, unterbrach ich sie direkt, da ich wusste, worauf sie hinaus wollte.
„Ich kann nicht“, fügte ich noch hinzu. Èva setzte sich eine Sonnenbrille auf die Nase. Sie erklärte den Koffer offiziell als voll, also musste sie alles, was nicht mehr rein passte, eben anziehen.
„Onkel Leigh wird sicherlich wen anderes für den Laden finden. Missoula ist wirklich schön im Sommer.“ Ich wusste die Geste zu schätzen, doch ich schüttelte weiter den Kopf, als wären mir alle anderen Wörter abhandengekommen.
„Mathwesfield ist auch schön“, warf ich hinterher, wobei sich das kleine Örtchen momentan eher wie ein brodelnder Hexenkessel anfühlte. Viel zu heiß und mit kochendem Boden unter den Füßen.
Mathwesfield war eine kleine Stadt in Idaho, umgeben von Bergen, Wäldern, Seen und umzingelt von einem Fluss, den ich gerne als Wache unserer kleinen Stadt betrachtete. Mathwesfield erschien mir verträumt, wenn auch wenig privat. Jeder schien jeden zu kennen, sodass es geradezu unmöglich war, sich unsichtbar und unbemerkt von A nach B zu bewegen, wenn man nicht gerade den Schutz der Wälder, mitsamt seinen Einwohnern oder die Berge aufsuchte.
„Überlege es dir. Du kannst gerne nachkommen.“ Èva wusste, an welchem Punkt sie nachgeben und mir die Zeit lassen musste, die ich brauchte.
Èva war zwar zwei Jahre älter als ich und somit fast zwanzig, dennoch hatte ich oft das Gefühl gehabt, gerade als kleines Kind, dass sie mehr eine Freundin für mich war als eine Schwester.
Sie verstand mich, und dafür war ich ihr wirklich dankbar.
„Aber wehe dem, du gehst mir hier mit Ariadne ein.“ Lachend schob sie sich ihre Sonnenbrille auf die Nase und verdrehte ihre mandelförmigen, braunen Augen, ebenso groß wie meine, nur viel eindringlicher.
„Vermutlich eher andersrum.“ Ich erhob mich von dem Platz, auf dem ich mich niedergelassen hatte und wollte schon zur Tür, als Èva nochmal das Wort an mich richtete.
„Leigh, du solltest die Welt genießen, bevor sie dir ausgeht.“ Ihre Worte waren gezeichnet von Vergänglichkeit, während sich auf meinen Arme eine Gänsehaut des Unbehagens bildeten.
Ich wusste, wie Èva ihre Worte meinte, doch zu sehr erinnerte sie mich in dem Moment an unsere Mutter, welche ebenfalls eindringlich darauf bestand, dass ich normal werden sollte.
„Okay.“
Ich ließ Èva alleine, während meine Gedanken sich um die Frage schlingerten, welches Leben das Beste war und wie es kam, dass sowieso jeder immer wusste, was wirklich Wert besaß und was lohnenswert war?
Wer hatte die Regel erstellt, und wieso sollte sich jeder dran halten, wenn es anders so viel angenehmer war?
Ich schloss die Tür hinter mir leise und schlich über den Flur, in Richtung meines Zimmers.
Meine nackten Füße hinterließen auf dem hellen Holz patschende Geräusche, begleitet vom regelmäßigen Ticken der riesigen Uhr im Flur.
Ich hörte, wie die Tür sich unten öffnete.
„Hallo?“ Es war Mum, und ich konnte leichte Resignation in der Stimme erkennen, als ich antwortete.
„Ich dachte, du wärst unterwegs …!?“ Mum sorgte sich. Ich war nicht wie meine Schwestern. Diese waren ständig unterwegs, brachten ihre Freundinnen mit nachhause und schwärmten von ihrem Freund oder den süßen Jungs aus der Schule. Sie wollten lange weg bleiben und sich die Nacht um die Ohren schlagen oder in einen Film gehen, für den sie viel zu jung waren.
Ich verbrachte meine Nachmittage oft im Garten. Ich mochte es, dem fernen Rauschen des Flusses zu lauschen, während der Wind mir durch mein Haar wehte; die Einbildung einer Liebkosung.
Ich liebte das Gefühl, wenn ich ein Buch aufschlug und meine Finger zum ersten Mal über die Seiten strichen.
Ich suchte die Wahrheit in Songs und verlor mich in den Düften der süßlichen Kiefernnadeln.
Das waren also mein Leben und ich – alles, bevor ich Elliott traf.
W e l t e n s p r ü n g e
Der erste Tag meines Sommerkurses an der Universität in Boise fand eine Woche nach meinem kleinen Streit mit Hazel statt.
Ich hatte die Tage genutzt, um mein Zimmer aufzuräumen, meine Bücherregale aufzufüllen und dann und wann mit Hazel und Rose, die nie lange böse waren, an den See zu fahren, wenn ich nicht gerade im Plattenladen arbeitete.
Im Sommer war dies eher eine ungnädige Tätigkeit. Ich liebte Musik und alte Platten und wusste Menschen zu schätzen, welche den Wert von guter und lebendiger Musik erkannten.
Der Sänger Elliott Smith brachte mich regelmäßig zum Träumen, wenn ich den Song „Between the Bars“ hörte.
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