Meine Gedanken irrten durch die Gänge, ohne wirklich länger als ein paar Sekunden zu verharren. Ich riet mir ohne große Melancholie das vergangene Schuljahr in Erinnerung. Und während ich obdachlose Gedanken schuf – setzten Hazel und Rose sich mit den letzten Widrigkeiten des Schulalltags auseinander.
Meine Freundin Rose, in ihrem Wesen und ihrer Art und Weise so zerstreut, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie sich irgendwann selbst verlor und nie wiederfand. Neben ihrer aufgewühlten und vergesslichen Art wirkte sie sprunghaft und rastlos. Ich stellte mir oft vor, wie es in ihrem Kopf aussehen würde. Wie Gedanken durch ihr Inneres tobten, von einem Punkt zum nächsten eilten, ohne lange an einem Ort zu verweilen. Ich sah ihren Blick und malte mir aus, wie sie nach einem Hafen für ihre Gedanken suchte, einem Platz, wo sie anlegen und verweilen konnten. Und solange würde sie weiter durch die bunten und wippenden Weiten ihrer eigenen Vorstellungen schippern.
Ich mochte Rose, und ich mochte es, mich mit ihr zu unterhalten. Jedes zweite Wort schien bunt und glitzernd und erhellte den tristen Alltag zwischen all den grauen Worten, welche sich gegenseitig in die Luft hoben, aufeinander gestapelt wurden – nur um am Ende des Tages in bitterer Enttäuschung in sich zusammen zu sacken.
Ich beobachtete Rose dabei, wie sie einzelne Zettel aus ihrem über und über beklebten Spint fischte und in ihre zerrupfte Tasche stopfte. Die Ahnung eines Lächelns legte sich auf meine Lippen.
„Wir sollten unsere Planung für den Sommer vertiefen.“ Mein Lächeln verschwand, und mein Blick richtete sich wieder auf Hazel. Sie blickte von oben auf mich herab und tippte, geradezu schreiend vor Ungeduld, mit ihren weißen Schuhen auf den Boden.
Neben ihren tennisartigen Designer-Schuhen wirkten meine mehr als erbärmlich aussehenden Chucks wie eine Blamage. Sie waren schmutzig, und ich erinnerte mich, irgendwo ein Loch gefunden zu haben. Die Schnürsenkel waren bereits einmal gerissen, und meine Schwester hatte auf die Sohle ein Herz gemalt, das aussah wie Pobacken.
„… meine Eltern haben sich noch nicht dazu geäußert, und meine Ersparnisse habe ich für den Sommerkurs ausgegeben“, sagte ich und zuckte entschuldigend die Schultern.
Voller Euphorie hatte Hazel bereits Ende des Winters davon zu erzählen begonnen, dass wir drei, wenn dann endlich Sommer wäre, nach Europa fahren würden.
Italien, Griechenland, Spanien, Portugal – es war ihr gleich, solange die Sonne ihre Haut umschmeichelte und attraktive Südländer dies zu schätzen wussten.
„Griechenland, Elefthería! Da wolltest du doch schon immer hin“, hatte sie versucht, mich zu locken, mit den Gedanken an unser Haus, welches wohl mehr mit mir und meinen Interessen in Verbindung gebracht wurde als mit meinen Eltern.
Rose war sofort Feuer und Flamme gewesen, während ich sie mit halbherzigen Antworten vertröstet und, das muss ich zugeben, auch hingehalten hatte.
Ich fürchtete mich vorm Fliegen. So sehr, dass ich mir regelmäßig Ausreden ausdachte, um nicht meine Großtante in New York zu besuchen. Eher würde ich zu ihr laufen, als auch nur daran zu denken, mir ein Flugticket zu kaufen.
Zudem hatte ich auch andere Pläne. Neben dem Sommerkurs für Literatur, welchen ich an der Universität in Boise belegt hatte, würde ich auch im Plattenladen meines Onkels arbeiten.
Mir fehlte so nicht nur der Mut, sondern zu meinem Glück auch die Zeit.
„Na toll.“ Die gespielte Höflichkeit in Hazels Stimme war verschwunden. Ihr sonst zu einem Lächeln gekräuselter Mund, ganz gleich, mit wem sie sich unterhielt, hatte sich zu einem Strich verändert, und ihre gezupften Augenbrauen zu zornig gekrümmten Würmern.
„Und das konnte dir nicht früher einfallen?“
Schuldbewusst hob ich die Schultern, als könnte diese kleine Geste meine Missetat wieder beheben. Doch mir war durchaus bewusst, dass dies nicht funktionierte, und letztlich gab ich mir auch nicht besonders Mühe, reuevoll zu wirken.
Ich beobachtete, wie Hazel sich mit einem Schnauben umwandte, die letzten Habseligkeiten von Rose aus dem Spint in deren Tasche stopfte, unsere verdatterte Freundin am Arm packte und davon stolzierte.
Ich und mein Roman blieben zurück.
Es war nicht das erste Mal, dass ich solch eine Szene erleben durfte.
Hazel war eine einnehmende Persönlichkeit. Sie hatte ihre Vorstellungen, die sich selten mit den meinen deckten, fast als wäre ihr Himmel blau und meiner grün, und wir könnten gar nicht anders, als uns zu missverstehen. Sie plante ihr Leben so genau, wie sie nur konnte und hatte ihre Ziele stets vor Augen. Ein Durchblick, der mich selber nur mit Neid erfüllen konnte.
Rose hingegen sprunghaft und spontan, mit mehr Glück als Verstand – Hazel mit der absoluten Kontrolle und ich: irgendwo dazwischen.
Ich war still und in meinen Gedanken. Ständig ein Buch in meiner Tasche, für den Fall, dass ich aus dem Alltag fliehen und von fremden Welten verschluckt werden wollte. Ich muss zugeben, ich gab mir nicht sonderlich Mühe, ein Teil 'der
Gesellschaft' zu werden – wie meine Lehrerin es einmal genannt hatte.
Oft waren mir die Schüler in unserer Schule gleich, sowie die alltäglichen Dramen und kleinen 'Weltuntergänge', die sich in ihren Köpfen abspielten.
Ich verurteilte niemanden, nur wollte ich nicht selbst in diese Welt geworfen werden und bloß meinen Abschluss machen. Dass Hazel und Rose selbst nun Teil meiner kleinen Welt geworden waren, war eher beiläufig passiert.
„Ich ertrage diese einfallslosen Gesichter nicht mehr. Magst du Erdbeeren?“ Vor zwei Jahren war Hazel auf den Hof gestürmt, mit der rothaarigen Rose im Schlepptau. Für sie war das Repertoire an interessanten Gesichtern und Geschichten ausgeschöpft und das schon drei Jahre vor ihrem Abschluss. Dass sie an mir hängengeblieben war, musste schlicht ein Akt der Verzweiflung gewesen sein.
Aber da stand sie, mit einer Schale voll Erdbeeren in der Hand, welche sie mir hinhielt.
Ich hätte ablehnen können, doch ich liebte Erdbeeren, und so griff ich zu.
Seitdem war Hazel da.
Und seitdem lief ich. Nicht mit ihr. Selten neben ihr. Oft hinter ihr – mit einem gewissen Abstand.
Aber vor allem, um mich nicht zu verlaufen.
Um nicht in der Einsamkeit der leeren Worte verloren zu gehen.
Ich bezweifle, dass Hazel sich dieser Distanz jemals bewusst geworden war und wenn doch, dann war gerade sie in der Lage gewesen, lächelnd darüber hinweg zu schauen. Ich glaube, dass sie einer der wenigen Menschen war, bei denen ich es irgendwann aufgegeben hatte, nach besonderen Worten zu suchen.
Zu schnell reihte sie diese unbedacht aneinander, missbrauchte die Macht, welche ihr mit jedem einzelnen Wort, jedem Laut und jeder Silbe gegeben wurde und handelte in allgemeiner, unüberlegter Manier.
Und doch war ich bei ihr, um zumindest ein wenig zu sein und nicht in meinem eigenen Schweigen zu verschwinden.
Denn kaum ein Wort schien mir in der Schule richtig. Also behielt ich sie gierig und geizig für mich.
Und Hazel? Sie war wie die Menschen, die einen einfach griffen und mit sich zogen.
Und ich ließ mich ziehen, wie alle Menschen, die sich wie ich in ihre sichere Stille hüllten, da jede Alternative einem Taumeln gleich kommen würde.
Denn dort, da war ich haltlos.
Für mich waren die Zeiten dort nur winzige Ausschnitte in meinem Leben. So betrachtete ich die Zeit, wie sie in rasender Unbedeutsamkeit an mir vorbeischoss, während ich Tag ein und Tag aus den ständig gleichen Gesprächen folgte:
„Avery die Schlampe hat was mit Jakob am Laufen!“
„Mr. Sanders ist so hot, da geb ich mir gerne eine Doppelstunde Arithmetik!“
„Selfie!!“
„Moira und Lilja tragen dasselbe hässliche Oberteil!“
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