Ich war mir sicher, dass dem so nicht wahr – denn zu dem Zeitpunkt hätte ich nur sagen können, dass es in dem Buch um einen Wal ging.
Doch ich nahm brav die Nummer an, lächelte und sah ihm nach, als er sich aus dem Raum schob.
Der Kurs ging schnell vorüber. Ferry gab viel Organisatorisches von sich und auch die Vorstellungsrunde zog sich arg in die Länge.
Nach und nach verließen die Leute den Raum, mit denen ich nun den Sommer verbringen würde und die, wie Ferry sagte, meine Familie seien.
Mir persönlich reichte eine Familie, sodass ich ihn im Stillen berichtigte und sie allesamt „Projektkollegen“ nannte.
Ich ließ mir etwas Zeit, nachdem Jamain mir seine Nummer gegeben und den Raum verlassen hatte, nur um sicher zu gehen, ihn nicht auf dem Flur anzutreffen und ein unangenehmes Gespräch führen zu müssen, mit Fragen, auf die ich womöglich keine Antworten hatte.
„Ich kenne Mathwesfield.“
Erschrocken wandte ich mich um. Ich war aus dem Raum getreten und wog mich fast schon in Sicherheit, da ich mich nur auf Jamain konzentriert hatte, dass ich nicht merkte, wie sich mir die schlaksige und hochgewachsene Person genähert hatte.
Ich wusste sofort, wer es war, auch wenn ich dieser den Rücken zugewandt hatte und die Erinnerung ein wankelmütiges Konstrukt war.
„Oh. Okay?“ Ich wandte mich zu Elliott um und schob meine Hände in die Hosentaschen geschoben, während mein Kopf nach Wörtern suchte, die hier vielleicht angebracht wären.
„Meine Tante wohnt dort. Sie hat einen riesigen Hof, etwas abseits. Mit Hühnern, Pferden und all sowas. Ich verbringe den Sommer bei ihr, weil meine Eltern der Auffassung sind, Abstand täte mir gut.“
Ich runzelte die Stirn, irritiert über diese Offenheit.
„Abstand wovon?“
„Vom Leben.“ Ein Lächeln huschte über die Lippen, und Elliott hatte sich wieder weggedreht.
„Wir sehen uns.“
Hazel war nicht begeistert von meinen Sommeraktivitäten. Sie war wie meine Mutter der Meinung, ich würde Zeit vergeuden. Erfahrungen, welche an mir vorbei strichen und nicht wiederholt werden konnten.
Dass die Erfahrungen ihre waren und ich mir diese ungern überziehen lassen wollte, war ihr egal. Ich spürte, dass sie juckten und mir vorne, hinten, an der Seite und in allen Umfängen nicht passten. Sie waren wie ein kratzender Erfahrungspullover, den der mir gegen meinen Willen über den Kopf gezogen werden sollte.
Sie fragte jedes Mal nach meinem Kurs und schnaubte verächtlich, sobald ich begann, ihr zu antworten.
Anfänglich hatte sie nur gefragt, was für Leute dort wären. So berichtete ich von ihnen, während sie jeden von ihnen auseinander nahm und ins Lächerliche zog.
Ich kannte die Leute selber kaum, doch es erschien mir nicht richtig und ging mir gegen den Strich, dass sie so von Menschen sprach, welche mit mir dieselbe Leidenschaft teilten.
Machte sie sich denn dann nicht auch gleichzeitig in bitter fiesen Tönen über mich lustig?
Auch „Moby Dick“ konnte sie nichts abgewinnen und meinte, sie hätte es mal angefangen, aber als langweilig abgestempelt – ich solle mir die Mühe sparen.
Ich mochte das Buch.
„Moby Dick“ war in vielerlei Hinsicht ein Meisterwerk an Sprache. Ein zweischneidiges Schwert aus Abenteuer und Philosophie. Ich mochte die Art des Autors zu schreiben, und ich mochte, dass auch meine „Projektkollegen“ das Buch zu schätzen wussten, jedoch dies sprachlich auf unterschiedlichste Weisen ausdrückten.
Der Kurs war vieles – und nachdem sich die erste Nervosität gelegt hatte, merkte ich wie ich mit den Menschen warm wurde.
Es war einfach.
Denn oft waren es die fehlenden Worte, welche uns an einem Ort der Bewegungslosigkeit verharren ließen – gespickt mit Unsicherheit. In dem Kurs waren unsere Worte wichtig, sodass es galt, seine Gedanken frei zu äußern, ohne in herabwürdigende Kritik des Anderen zu geraten.
Wir waren in Bewegung und gingen so schnell aufeinander zu und lernten einander kennen.
Dennoch spürte ich, dass ich mich in einem Kreislauf wiederfand, der mir aus der Schule und durch Hazel viel zu vertraut war. So war Jamain zu Beginn einfach da gewesen und ließ seine Worte frei, damit wir anderen sie bewundern konnten.
Ich genoss es, ihm zu zuhören und ließ mich in unserer kleinen Arbeitsgruppe, sehr gerne von ihm thematisch lenken.
Ich hatte mich an ihn gehängt und ließ mich leiten – weil ich es gewohnt war mitzulaufen.
Dennoch war er stets respektvoll mir gegenüber.
Bei Hazel konnte ich davon nichts erwarten, sodass ich bereits nach dem dritten Kurs und ihrer Nachfrage bezüglich dessen nicht mehr antwortete und das Thema wechselte.
„Wie steht es mit eurem Urlaub?“ Ein Seufzen und Rascheln drang an mein Ohr, ehe Hazel mir antwortete.
„Rose hat jemanden kennengelernt. Harry oder Henry, ich weiß es nicht genau. Jedenfalls bricht sie sich einen ab, sobald sie auch nur eine Sekunde mal ohne ihren Lover sein soll.“
„Oh? Also fahrt ihr nicht zusammen weg?“, schlussfolgerte ich, während meine Finger über die Seiten von „Oliver Twist“ von Charles Dickens fuhren. Das nächste Buch auf unserer Literaturliste, dessen Kapitel ich durchkämmte und sogar mehr las, als uns aufgetragen wurde.
„Verarschst du mich? Sehe ich so aus, als würde ich das dritte Rad am Wagen sein wollen?“
„Du meinst das fünfte …“, warf ich ein, erhielt allerdings nur ein plumpes „Papperlapapp“ und lauschte weiter Hazels Schimpftirade, wenn auch eher halbherzig.
Ich war nicht begabt darin, mehreren Dingen intensiv zu folgen, sodass ich mich mehr mit dem Buch vor mir befasste als mit meiner schimpfenden Freundin. Es war leicht zu erahnen, wohin Hazels Worte gingen, sodass ich mir das Ende vom Lied denken konnte.
„… kannst du dir das vorstellen?“
„Hm.“ Ich hatte mich auf den Rücken gedreht und spürte das trockene Gras unter mir, während mein Laptop ständig ein 'Pling' von sich gab. Eine Ankündigung, dass mir Jamain wieder geschrieben hatte.
Ich lag im Garten, wie so oft, wenn ich nachhause kam, und genoss die sommerliche Wärme, die mein Gesicht liebkoste, zumindest soweit, wie Hazel und Jamain es zuließen.
Er – Jamain - hatte bereits viele der Bücher gelesen und als ich ihm endlich mitgeteilt hatte, dass es bei mir nicht ganz so aussah, hatte er mich als „Küken“ bezeichnet und wollte nun in allen Details wissen, wie ich zu den Werken stand, sobald ich sie gelesen hatte oder eben auch gerade dabei war.
„Kannst du dir nicht eine Woche frei nehmen? Bitte? Ich würde so gerne hier weg.“
Hazel hatte ihre Babystimme aufgesetzt und plärrte mich nun durch mein Telefon hinweg an.
„Ich weiß nicht, ich …“ – „Bitte!“
„V- vielleicht können wir ja im Garten meines Onkels zelten?“
„Wie alt bist du? Zwölf?“ Damit hatte sie aufgelegt.
‚Pling‘ - ‚pling‘ - ‚pling‘
Jamain:
Bist du da?
Jamain:
Bei welchem Kapitel bist du?
Jamain:
Charles Dickens shakespearische Art ist beeindruckend.
Jamain war – nett. Ein wirklich netter Kerl, und wenn es um Bücher ging, intensiver Zeitgenosse. Aber irgendwie nicht auf meiner Ebene.
Es war eigenartig, dieselben Vorlieben zu haben und sich doch auf gänzlich anderen Planeten zu befinden, während man nicht zueinander fand.
Ich hielt mich im Seminar gerne an ihn, auch wenn wir in Kleingruppen miteinander arbeiteten. Er gab nicht nur eine Struktur der Arbeit vor, sondern durch ihn wirkte manches Kauderwelsch gar nicht mehr so verwirrend. Er neigte dazu, bereits alles entknotet auf den Tisch zu legen, sodass wir anderen nur die Puzzleteile zusammenzufügen brauchten.
Doch Seminar und Realität schienen unterschiedliche Gegebenheiten zu sein, und mir gelang es nicht, beide Umgebungen miteinander zu verbinden. So sehr ich Jamain und seine Worte auch mochte.
Читать дальше