„Wenn du magst, steche ich dir auch eines“, hatte sie einmal gemeint und auf meine Nase gedeutet, nachdem sie mir erzählt hatte, sie hätte sich einige Ohrlöcher selbst gestochen.
Und Lou – Lou war einfach fröhlich. In seiner Nähe brauchte man keine Angst zu haben, vorgeführt zu werden. Er war so unsagbar loyal, dass man beinahe Angst haben müsste, er würde darüber hinaus sich und seinen eigenen Standpunkt verlieren, auch wenn das nie passieren würde. Denn das war Lou. Standhaft, loyal und kein Kind der Trauer.
„Moral sollte keiner individuellen Interpretation unterliegen, sondern einer geregelten Norm. Wie soll unser System funktionieren, wenn jeder ein anderes Verständnis für Moral und dem Sinn von richtig und falsch hat?“ Es schien ein normaler Morgen. Ich war wieder mal zu spät, weil ich mich mit meinem Dad um das Auto gestritten hatte und letztlich mit dem Bus nach Boise fahren musste, sodass ich bereits alle im Raum vorfand und Emma und Elliott schon in ein Thema vertieft waren, welches das Gespräch am Morgen dominieren sollte.
Emma hielt ein Buch in die Luft, das wohl zu dieser Diskussion geführt hatte, wedelte damit jedoch so sehr herum, dass ich selbst nicht sehen konnte, um welches es sich handelte.
„Das System ist eine Schlange, die uns mit Haut und Haaren zum Frühstück verspeisen würde, wenn …“ Emma hob die Hand, als Elliott ausholte und schüttelte den Kopf.
„Komm mir nicht wieder mit einer Tirade über das System. Lenk nicht ab.“
„Unsere Gesellschaft ist geformt, wenn nicht von Gesetzen, welche festgelegt sind, dann durch eigene Normen und Werte. Je nach Gesellschaft unterschiedlich und individuell. Demnach ist der Mensch vor dem unberechenbaren Wesen seiner Mitleidenden geschützt, falls das eigene Verständnis von Moral versagen sollte. Du kannst etwas wie Moral und das eigene Empfinden nicht pauschalisieren. Jeder Mensch hat unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen, woraufhin sich die Perspektiven und Blickwinkel eigener Entscheidungen und Wahrnehmungen verändern. Es entsteht ein kategorischer Imperativ. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, zitierte Elliott Kant und noch ehe Emma zum Gegenschlag ausholen konnte, meldete ich mich zu Wort.
„Das ist wie mit dem Heinz-Dilemma.“ Bislang hatte ich mich selbst stets im Hintergrund gehalten. Ich war nicht der Typ Mensch, welcher sich in Gespräche einschaltete, ich hörte lieber zu und bildete mir still und leise, für mich, eine Meinung.
Doch nun hatte ich was gesagt, und die Blicke jedes einzelnen am Tisch ruhten auf mir. Sogar Lou hatte von seinem Buch aufgeschaut und sein Trinkpäckchen mit Orangensaft für einen Moment vergessen.
„Wie bitte?“ Elliotts eisblaue Augen musterten mich, eine Augenbraue schoss skeptisch in die Höhe.
„Das Heinz-Dilemma! Es ist eine Geschichte, die sich um einen Mann mit Namen Heinz dreht. Er hatte eine Frau, welche sterbenskrank war, und nur ein sehr seltenes Medikament könnte ihr das Leben retten. Dieses Medikament gab es nur in einer Apotheke, und der Apotheker wollte viel zu teuer verkaufen. Für weniger Geld war er nicht gewillt, es herzugeben. Heinz konnte das Geld, welches der Apotheker verlangte, nicht auftreiben. Aus Verzweiflung bricht Heinz in die Apotheke ein und stiehlt das Medikament für seine Frau. Nun stellt sich die Frage, was schlimmer ist und moralisch eher vertretbar. Stehlen oder einen Menschen sterben lassen? Beides ist wohl moralisch verwerflich.“ Ich faltete meine Hände in meinem Schoss und versuchte, den Blicken der anderen standzuhalten, ehe Elliott sich erneut Emma zuwandte und mit einer ausladenden Geste zu mir wies.
„Da hörst du es.“ Elliott empfand das Thema vorerst wohl für erledigt, schlug eines der Hefte auf dem Tisch auf und schrieb darin, während Lou wieder Orangensaft aus dem Trinkpäckchen sog und Emma mich breit angrinste.
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