"Wo ist sie nur! Ich hab seit Tagen nicht von ihr gehört!" Ja, das war in der Tat seltsam. Niemand schien zu wissen wo sich Melanore zurzeit aufhielt. Hausschild hatte mehrfach einen weiteren Bediensteten mit Nachricht ausgeschickt. Doch er kam unverrichteter Dinge zurück. Sie blieb verschwunden und Bolder, ihr Beschützer, war außer sich. Auch er wusste keinen Rat. Sie hatte Ausgang, ein weiteres Privileg, das er ihr zugestand, aber dieses Mal war sie nicht zurückgekommen. Ein paar Schläger suchten bereits seit zwei Tagen die Stadt ab, aber ihre Spur verlor sich bereits, einen Steinwurf entfernt, in der nächsten Gasse. Sicher war sie maskiert, unkenntlich für alle Beteiligten. Aber warum war sie so einfach geflohen? Es ging ihr doch ausnehmend gut. Bolder verstärkte seine Bemühungen noch – Fehlanzeige. Sie blieb unauffindbar. Nur einer hatte sie gesehen, Brecht der Bettler. Melanore hatte ein gutes Herz und so gab sie ihm, immer wenn sie an ihm vorbei schlich, einen kleinen Obolus – je nach Tagesform, ein oder zwei Kronen. Er leierte dann routiniert mit seinem zahnlosen Mund die gleiche Dankesformel, sah aber zur Abwechslung seinen Gönner mal an und immer bemerkte er die Kapuze, unter der eine Strähne rotes Haar verspielt hervorblitze. Immer dann machte Brecht Anstalten aufzustehen, doch die Dame wies ihn jede Mal resolut an sitzen zu bleiben – die Stimme war wie Harfenklang, und der heranwehende Parfümduft wie das Tor zum Himmel. Er konnte sie durchaus riechen, trotz seiner von Schmutz verkrusteten Nase. Sie war von edlem Geblüht, davon war Brecht überzeugt. Und ihre Freier sicherlich auch, jedenfalls was ihr Können betraf.
Ehrengeist war wütend, er lief in seinem Arbeitszimmer auf und ab, Tage waren vergangen, seine Frau mit den Töchtern auf Reisen – und er musste die wertvolle Zeit ungenutzt verstreichen lassen. Die Sonne ging unter, als er aus dem hohen Fenster auf den Hof sah. Kam da nicht eine Kutsche? Ehrengeist öffnete die Fenster und lehnte sich auf die breite Fensterbank. Ja, tatsächlich – und die Kutsche hatte aus der Ferne verdammte Ähnlichkeit mit seiner Hauskutsche. Ehrengeist seufzte enttäuscht und gleichzeitig erleichtert. Seine Frau ahnte schon seit langem seine Untreue, daher war es nicht verwunderlich, dass sie früher als angekündigt hier eintraf. Wütend und enttäuscht schloss er die Riegel der Fenster. Nun, seine Ehe war gerettet, aber seine Lust blieb obdachlos bis auf weiteres. Er musste Melanore unbedingt wiedersehen. Diese weiße Haut und die roten Locken unterhalb des Bauches gingen ihm nicht aus dem Kopf. Der Schönheitsfleck neben den, blutvollen Lippen. Ehrengeist schüttelte sich vor Entzücken. Ein anderes Bild stieg vor seinem inneren Auge auf und bereitete ihm Schrecken, das Bild seiner Frau, ein Grauweib aus dem Norden, ebenso hässlich und abstoßend wie die Lande aus denen sie entstammte.
Die Schlote rauchten und vernebelten den Blick zum Horizont. Schwarz vor Kohle blieben die Häuser unansehnlich zurück. Die Farben hatten sich mit den Jahren unter dem Ansturm von Ruß und Qualm zurückgezogen. Waffen, exportiert in ferne Länder jenseits der Meere, speisten die Kriege mit brauchbarem Mordstahl. Bedauernswerterweise steckte er heute in der Brust eines prominenten Adligen. Dieser Umstand war peinlich, denn es war das dritte zu beklagende Opfer, schon der Dritte der mit Stahl von Hugwar Holzhammer das Leben ausgehaucht wurde. Die Marke war unverkennbar und für jedermann gut ersichtlich. Eigentümlich, wie schnell man von einem gefeierten Meister zu einem angeblichen Mörder wurde. Die Stadt vergab keine Fehler, selbst dann nicht, wenn man nicht einmal selbst die Hand am Parier führte. Ein Vetter dritten Grades brachte schon früh am Morgen die gute Nachricht. Er verbarg nicht seinen Hohn, als er feist grinsend die Nachricht übermittelte. Dieser Hundsfott aus entfernter Verwandtschaft neidete ihm schon immer seinen Erfolg – das war überall im Schmiedeviertel bekannt – dennoch hielt dies dem Mob nicht ab, sich zu versammeln und laut brüllend durch die engen Gassen zu marodieren. Als sie auf der Schwelle antrafen, war der Haufen bereits so angeheizt, dass sie unverzüglich, mit auf dem Weg aufgeklaubten Steinen, nach seinen prachtvollen Scheiben warfen. Löchrig, wie sie in der Zwischenzeit geworden waren, offenbarten sie Hugwar bedauerlicherweise jedes einzelne Wort: "Hängt den Mörder, wir sind nicht mehr sicher!" schrie der dickliche Bürger lauthals. Dabei war unschwer zu übersehen, um wen es sich handelte: "Vierteilen, vierteilen!" schrie der kleine Mann, seine Wangen waren aufgrund der ungewohnten Kraftanstrengung stark gerötet. Es handelte sich bei dem Unruhestifter um Trumin, ein Verwalter der Berenzbank. Ein fauler und hinterhältiger Kerl, der sein Leben damit verbrachte andere Wesen in den Ruin zu treiben.
Der Rest der aufmarschierten Truppe war nur dahergelaufener Pöbel – Hugwar kannte sie nicht einmal vom Sehen. Sicher waren einige von ihnen Sympathisanten oder gar Mitglieder der Anti – Zwergen Koalition – eine rassistische Bewegung, die in den Slums immer mehr Zuspruch fand.
Sie hassten Zwerge, und jedes Vergehen, das in diesem Topf Scheiße nach oben sprudelte, veranlasste die Koalition sich zu sammeln und gegen die Zwergenminderheit in Friedstatt vorzugehen. Die Stadtwache hatte Müh und Not für Recht und Ordnung zu sorgen, da die Stadt in diesen Tagen einer schwellenden Wunde glich. Überall entstanden Zwistigkeiten zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – ein Pulverfass. Verworren und unübersichtlich. Irrational – all zu menschlich.
Hugwar stellte sich auf die Zehenspitzen, die Häuser waren einfach nicht gemacht für kleine Zwerge wie ihn. Der Auftritt der Stadtwache war immer pompös, aber nicht zahlreich. Jemand schrie: Platz, Platz für die Wache! Erst reagierte die aufgebrachte Menge nicht. Einige spuckten verächtlich aus, und machten keine Anstalten ihren Platz zu verlassen. Erst als ein übergroßer, domestizierter Ork seinen Weg durch die Gasse fand, verstummte die Menge und machte freimütig Platz. Der Greifer war an die drei Fuß hoch und hatte Arme wie uralte Ammentannen. Der Dicke verschwand verängstigt zwischen ein paar Gemüseständen und stahl sich ins Dunkel einer der zahlreichen Gassen.
Die anderen schwiegen und bestaunten regungslos den Koloss, der jetzt direkt vor Hugwars Haus stand. Selbst die Marktschreier verstummten in Ehrfurcht.
Der Hauptmann trat durch die Menge, sein Federbusch wippte herausfordernd auf seinem Topfhelm. "Könnt ihr mir verraten was ihr hier treibt?" Seine Stimme übertönte alles. Er war ein Vibri – ein Wesen aus einer längst vergangenen Zeit. Die Stimme diente diesem wunderlichen Akzent der Natur als Waffe und so war es nicht verwunderlich, dass die Umstehenden vor Schmerz gekrümmt ihre Ohren zuhielten. Hugwar sprang vom Fenster zurück, denn der letzte Rest Scheibe sprang klirrend aus dem Rahmen. Niemand sagte ein Wort. Es herrschte respektvolle Stille. Einige Propagandisten nahmen wieder ihre Arbeit auf, jedoch verhalten und mit gebührlichem Respekt.
Hauptmann Luzerieanie deutete auf die Leute vor sich, ein weiterer Greifer hatte sich den Weg durch die gaffende Menge gebahnt. Jetzt wurden sie ihrer Berufsbezeichnung gerecht. Jeder einzelne der übergroßen Orks griff sich mehrere der Unruhestifter und klemmte sie wie ein Laib Brot unter den muskulösen Arm. Die Inhaftierten ächzten, leisteten aber keinen nennenswerten Widerstand. Niemand wollte sich zerdrücken lassen wie eine Flunder. Die Stadtwache hatte hinter ihnen Stellung bezogen, niemand konnte diesem gepanzerten Ring entkommen. "So, und hat sich der Aufwand gelohnt?" Luzerieanie beugte sich zu einem der Gefangenen und klopfte ihm mit seiner Gerte sanft auf die Wange. "Nein!" stöhnte der Mann angestrengt hervor.
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