Wie das Hungergefühl die Zusammenfassung aller Meldungen ist, welche im Oberbewusstsein (Gehirn) über die Ernährungsvorgänge in den Verdauungsorganen und den Körpergeweben eintreffen, so ist das Lebensgefühl die Zusammenfassung aller Meldungen über die Gesamtheit der Geschehnisse im körperlichen und seelischen Organismus. Eine Unsumme von Erregungsströmen fließt fortwährend dem Zentralorgan wie einem Sammelbecken zu. „Der in jedem Augenblick auffindbare Gesamtknäuel dieser Erregungen wäre der Same, aus welchem im Schoß des Bewusstseins das Lebensgefühl wie eine Wunderblume aufkeimt.“
Das Lebensgefühl gibt somit Kunde von einem unaufhörlichen, intensiven Geschehen in uns, von „Ausgleichen, Regulationen, eigentümlichen Tätigkeiten und Umtrieben höchst verwickelter Art, einem unerhörten Kreisen von Atomen und Elektronen, einem Vergehen ganzer Wehen von Kraft und Stoff und einem beständigen Neuentstehen von solchen.“
Aber dieses unfassbar große Geschehen in uns ist wohl geordnet, harmonisch abgestimmt und zielgerichtet geleitet. So erscheint meinem Versuche, in Wort und Bild zu fassen, was sich jeder Darstellung entzieht, der Lebensstrom als eine grandiose Symphonie. Wie sich in der Symphonie zusammenfinden: das Genie des Komponisten, die Direktive des Dirigenten, die Leistungen der ausführenden Musiker, die Tonschwingungen und Klangfarben der Instrumente, so vereinen sich im Lebensstrome aus verschiedenen Richtungen kommend und sich durchkreuzend:
1 Der Einstrom des Geistes in das Lebendige — wie im ersten Vortrag geschildert —, in Form der Impulse, der Zielrichtung gebenden Ordnung, der Direktive allen Geschehens.
2 Der Strom der elektronischen Materie, die, wie Sie hörten, aus zu wohlgeordneten Akkorden aufgebauten Ätherwellengebilden besteht.
3 Der Strom der strahlenden Energien, vor allem des Sonnenlichtes.
4 Der Strom des seelischen Prinzips, der die Erlebnisgewinne der Rasse und der Vergangenheit in die Gegenwart hineinträgt.
Am Kreuzungspunkte, da wo die vier Ströme Geist, Elektronenwelt, Licht und Seele sich vereinen, wurzelt und wächst „durch der Glutpein Kraft“ der Baum des Lebens, atmet und regt sich der Mensch. In diesem Zusammenhange wird der Sinn des Kreuzes offenbar, dieses uralten Symbols der Weisheitslehren, das schließlich seinen höchsten Ausdruck im „Christus am Kreuze“ fand. Die Denker der Vorzeit sahen im Eindringen des Geistes in die Materie zur Erschaffung des Lebens eine Sendung des Gottessohnes in die Erscheinungswelt, zugleich aber auch ein Versinken des Geistes in die Materie, von der er fortan gefangen gehalten, gemartert und sogar getötet wird, aber wieder aufersteht. Diese Gedankengänge finden sich auch in einer dem Gnostiker Bardesanos zugeschriebenen Dichtung, betitelt: „Der Hymnus von der Seele“, dessen Inhalt kurzer folgender ist:
Der König sendet seinen Sohn nach Ägyptenland mit dem Auftrag, dort eine Perle zu holen, die in einem vom Drachen bewachten tiefen Brunnen liegt. Doch die Ägypter umgarnten den Königssohn mit ihren Listen. „Da ich von ihrer Speise, die sie mir boten, aß, da war's dass ich die Eltern und auch mein Ziel vergaß, dass ich vergaß die Perle, um die man mich gesandt, dass ich sie heimwärts bringe aus dem Ägypterland. Ich diente ihren Herrschern und lag in tiefem Bann. Das hatte mir die Speise und ihre List getan.“ Die Eltern aber wussten, was mit ihrem Sohne geschah. Sie sandten ihm einen Brief, der ihm alles wieder in Erinnerung brachte, seine Herkunft und das Ziel seiner Sendung. Da schläferte er mit Liedern und zauberstarken Namen den zischenden Drachen ein, holte die Perle und kehrte heim in sein Königreich.
In der Tat, auch im Leben der Menschheit hat der Geist einen Passionsweg zu gehen, auch da spielen ihm die Listen und Speisen der „Ägypter“ übel mit. Das Leben wird leidvoll, je mehr der Geist in einem Menschen sich regt, umso leidvoller. Und all dieses Große und Kleine im Geschehnis des Lebens wird umfasst im Symbol vom Christus am Kreuze. Leben ist Leiden! Wir alle sind ans Kreuz geschlagen, sind Träger und zugleich Kerkermeister des göttlichen Geistes.
Im Urphänomen des Lebendigen, von dem im ersten Vortrag die Rede war, tritt der Lebensstrom auf, wächst von der primitiven Bakterie an zum einzelligen Lebewesen und schließlich zur Lebensorganisation der Pflanze, des Tieres und des Menschen. Je komplizierter und höher die Organisation, umso größer werden die Ansprüche konstruktiver und architektonischer Natur zur Ermöglichung und Erhaltung des Lebensstromes. Bei dem unaufhörlichen Vergehen und Neuwerden ganzer Welten muss jeder lebenden Zelle Stoff und Kraft in bestimmter, nie versiegender Menge zu Gebote stehen. Das einzellige Lebewesen kann nur in einer Art „Mutterlauge“, z. B. im Meerwasser, leben und gedeihen, nur da, wo die Umgebung seinen Bedarf zu liefern vermag. Die Eizelle, aus der das Kind heranwachsen soll, wird im Mutterschoße wundersam in ein Nährlager eingebettet, in welchem sie die Befriedigung all ihrer Bedürfnisse finden kann. Nun setzt die Zellteilung und das Wachstum ein, aus der einen Zelle wird eine Zellenkugel, eine Zellenblase (Morula), durch Einstülpung ein doppelwandiges Gebilde (Gastrula), nun umspülen die Nährsäfte schon Innen- und Außenwand. Aber das Wachstum geht weiter, immer größer werden die Zellmassen. Äußere und innere Bespülung mit Nährflüssigkeit wird unzureichend. Nun setzt konstruktive Hilfe ein. Neue Zellgewebe bilden sich und widmen sich der Aufgabe, eine den werdenden Organismus in allen Teilen bis in die letzten Winkel durchziehende Doppelkanalisation für Zu- und Abfuhr zu bilden. Es entstehen die Blutgefäße: zuleitende Schlagadern, rückleitende Blutadern und das Netz der Haargefäße, das die Enden der feinsten Schlagadern mit dem Anfang der feinsten Blutadern verbindet, ein Kanälchennetz, dessen Schleifen aneinander gereiht ein Rohr von 2500 Kilometer Länge und 80 Quadratmetern innerer Oberfläche im erwachsenen Menschen darstellen. Es entsteht das flüssige Gewebe des Blutes, das fortan durch das gesamte Kanalnetz kreisen wird, und dieses Blut trägt mit sich den gesamten Stoff- und Kraft-Warenbedarf für alle zu Geweben und Organen verbundenen lebenden Zellen des ganzen großen Körpergebäudes. Ein besonderes Pumpwerk, das Herz, sorgt, wohlgesteuert, Tag und Nacht, ein ganzes langes Leben lang, für den Kreislauf des Blutes im gesamten Kanalnetz.
Fünf Milliarden blutdurchströmter Kapillar- oder Haargefäßschleifen finden sich im erwachsenen Menschenkörper in solcher Verteilung vor, dass jede Zelle daraus ihren Bedarf zu erhalten vermag. Durch die von lebenden Zellen gebildete Wand der Schleifen sickert jene „Mutterlauge“, in der einst die Einzelle lebte, als Nährflüssigkeit und bildet den Ernährungsstrom , der nun die Zelle umspült und mit ihrem Bedarfe versorgt.
Das kleine Wegstück von der Kapillare zur Zelle, in dem sich der Ernährungsstrom bewegt und das sich milliardenfach im ganzen System wiederholt, gewinnt, wie man sieht, eine enorme Bedeutung für den Lebensbetrieb, für das Vegetieren des inneren Lebens. Wir nennen es daher „das vegetative Betriebsstück“, und die ganze Summe aller vegetativen Betriebsstücke nennen wir „das vegetative Betriebssystem“.
Auch dieser Ernährungsstrom im vegetativen Betriebssystem ist ein Lebensstrom, ein Teilstück zwar des großen Lebensstromes, aber deshalb ein außerordentlich wichtiges, weil es durch unser willkürliches Verhalten auf verschiedenen Lebensgebieten in lebensdienlicher oder lebensfeindlicher Weise beeinflussbar ist.
Wenn der Ernährungsstrom und die Organzelle im vegetativen Betriebsstück zusammentreffen, fällt eine bedeutungsvolle Entscheidung. Auf der einen Seite steht die Organzelle mit ihren so vielseitigen, aber genau bemessenen Bedürfnissen, auf der andern Seite der Ernährungsstrom mit allen seinen Gehalten. Wird der Ernährungsstrom imstande sein, die Zellbedürfnisse voll und ganz zu befriedigen? Diese Frage ist von höchster gesundheitlicher Bedeutung. Von dieser einen Beziehung, also von der Güte, Beschaffenheit, Zusammensetzung und Strömungsgeschwindigkeit des Ernährungsstromes hängt das Wohl und Wehe, die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit der Zelle, weiter des Organs und schließlich des Gesamtorganismus und der Person ab. Über den Ernährungsstrom im vegetativen Betriebsstück wirken in wechselseitiger Dienstbarkeit all die verschiedenen Organe des Körpers, die Atmungsorgane, Verdauungsorgane, Stoffwechseldrüsen, Einsonderungsdrüsen, Ausscheidungsorgane und, weiterblickend, die Luftbeschaffenheit, die Nahrungsbeschaffenheit, die Lichtbestrahlung der Körperoberfläche, das vorhandene Maß der Hautpflege und der Muskelbewegung, kurz alle Mächte des Kosmos auf die einzelne Zelle ein. Hier entscheidet sich, ob das Leben sich in Harmonie oder Disharmonie, im natürlichen oder in gestörtem Gleichgewicht abspielen kann. Angenommen die Zelle habe 100 verschiedene, kleine und große Bedürfnisse, von denen jedes einzelne in Bezug auf seine Qualität, Größe und Menge in einem bestimmten Verhältnis zu einer Gruppe oder zur Gesamtheit der andern steht, also korrelativ eingestellt ist. Diesen Bedarf hat der Ernährungsstrom zu befriedigen. Die Voraussetzung dafür, dass er dies kann, ist, dass seine Gehalte mengen- und qualitätsmäßig ebenso vorhanden, gegliedert und geordnet sind, wie die Bedürfnisse der Zelle es fordern; dass also die Gehalte des Ernährungsstromes die Zellbedürfnisse in ihren Korrelationen zu befriedigen vermögen. Es handelt sich, wie man sieht, um das Zusammenpassen oder Nichtzusammenpassen von Ernährungsstrom und Zellbedürfnis.
Читать дальше