Nun saß Jorak wieder einmal mit am Tisch im Heilpflanzengarten, und sein breitschultriger blonder Kompagnon stellte eine dampfende Pfanne mit Pfeilwurzeln auf den Tisch. „Greif zu, Jorak“, sagte Lilas und bot ihm eine Schüssel mit gerösteten Farnblättern an.
Beim Essen erzählte Jorak von den Neuigkeiten, die er auf dem Markt erfahren hatte. Seine Freunde lauschten entsetzt. „Beim Erdgeist, das klingt übel“, sagte Lilas. Ihr hübsches ovales Gesicht, das von dunklem Haar umrahmt wurde, war blass geworden. „Ob wir das bewältigen können? Selbst mit der Hilfe der Feuer-Leute?“
Kerriks Gesicht war grimmig ernst. „Wir müssen jedenfalls darauf vorbereitet sein, dass sie bis hierher kommen. Gleich morgen müssen wir anfangen die Verteidigung von Ekaterin zu organisieren. Jorak, du könntest …“
„Ich werde auch an die Grenze gehen“, sagte Jorak und plötzlich war es still am Tisch im Gartenhaus.
Entgeistert starrten seine Freunde ihn an. Klar, dachte Jorak, die beiden kennen mich nicht gerade als Kämpfer. Bin ich ja auch nicht. Er konnte selbst nicht genau erklären, warum er dem Ruf folgen wollte. Vielleicht, weil er das Gefühl hatte, dass Ekaterin ihm nicht mehr viel Neues bieten konnte, dass seine Zukunft nicht hier lag. Vielleicht wegen der Rastlosigkeit, die ihn seit ein paar Wochen quälte.
„Sie haben gesagt, jede Hand zählt“, meinte Jorak mit einem schiefen Grinsen. „Vielleicht haben sie einfach nur vergessen zu erwähnen, dass damit keine Gildenlosen gemeint sind.“
„Wahrscheinlich.“ Kerrik sah ihn nachdenklich an.
„Außerdem will ich weg aus Ekaterin“, gestand Jorak und wartete, wie sein bester Freund darauf reagieren würde.
„Ach so“, meinte Kerrik nur und fragte nicht nach dem Grund.
Schweigend aßen sie weiter und die unausgesprochenen Worte hingen wie Geister in der Luft zwischen ihnen. Ja, auch wegen dir will ich weg, dachte Jorak. Vielleicht wäre es besser gewesen, es zu sagen. Aber Jorak wollte Lilas nicht wehtun, indem er sie an Alena erinnerte. Sie und Kerrik hatten es gerade erst geschafft, ihre Liebe wieder zu heilen. Jetzt all das aufzuwühlen, was im Winter geschehen war, klang nicht nach einer guten Idee.
„Brauchst du noch etwas für die Reise? Können wir dir irgendwie helfen?“ Lilas legte ihm die Hand auf den Arm.
Jorak schüttelte verlegen den Kopf. „Ich schlage mich schon durch.“
„Immerhin hat er’s schon ein Dutzend Mal geschafft, Lixantha zu überleben – dann wird das an der Grenze auch irgendwie klappen“, knurrte Kerrik. „Die letzte Expedition in den Dschungel ist wirklich gut gelaufen, eigentlich könnte Jorak die Händler längst alleine führen …“
„Das hat nichts damit zu tun“, erwiderte Lilas gereizt. „Im Dschungel konntest du ihm zeigen, worauf er achten muss. Jenseits der Sieben Türme kennt sich keiner von euch beiden aus!“
Kerriks Blick verdüsterte sich. „Stimmt. Pass einfach auf dich auf, Jo. Lass dich nicht fressen.“
„Ich versuch’s, das kannst du mir glauben.“
„Jedenfalls zahle ich dir schon mal deinen Anteil aus der letzten Expedition aus, auch wenn mir die Händler das Geld noch schuldig sind.“ Kerrik ging seine Börse holen und zählte zwanzig Tarba auf den Tisch. Jorak blickte nachdenklich auf die matt glänzenden dreieckigen Münzen, nickte dann und steckte sie ein. Das war eine Menge Geld, und Jorak wusste, dass Kerrik ihm mehr gegeben hatte, als ihm eigentlich zustand. Aber es wäre nicht klug gewesen, abzulehnen. Er wusste, er musste mehr als die Hälfte davon für ein paar ordentliche Waffen ausgeben. Wenn man den Gerüchten glauben konnte, würde er mit dem Messer nicht viel ausrichten können gegen die Wesen, die nördlich von hier über die Grenze kamen.
„Vielleicht kannst du uns ja mal eine Nachricht schicken“, sagte Kerrik.
„Und ihr mir auch.“ Jorak grinste. „Sonst komme ich zurück und stelle fest, dass Ekaterin gar nicht mehr da ist.“
Lilas lächelte etwas gezwungen. Sie kam mit seinem schwarzen Humor nicht besonders gut klar, und es tat Jorak leid, dass er sich den Witz nicht verkniffen hatte. Er umarmte sie und Kerrik, dann machte er sich auf den Weg. Obwohl er merkte, dass Kerrik und Lilas ihm nachsahen, drehte sich nicht mehr um. Die beiden sollten nicht merken, wie schwer ihm der Abschied fiel.
***
Du bleibst hier ? ich möchte nicht, dass du gegen diese Biester kämpfst . Immer wieder echote es in ihrem Kopf. Alena spürte, wie Wut auf ihren Vater in ihr hochbrodelte. Wie hatte er so was sagen können? Wieso hatte er sie nicht mal gefragt, was sie tun wollte? Die paar Atemzüge dafür hätte er sich nehmen können! Er hatte ihr einfach seine Wünsche aufgedrückt. Bedeutete es gar nichts, dass sie Meisterin war und damit ganz offiziell erwachsen?
Ich verlasse mich auf dich, Alena!
Alena verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die schräge metallene Decke ihres Zimmers. Sie tastete sich an den Gedanken heran, wie es wäre, über die Grenze zu gehen und einfach weiterzuziehen, das Land dahinter zu erkunden. Hinein ins Unbekannte. Dinge sehen, die noch nie jemand gesehen hatte. Durch Gegenden reisen, in denen seit Tausenden von Wintern kein Bewohner Dareshs mehr gewesen war. Es würde gefährlich werden, selbst für eine Schwertkämpferin wie sie und mit einem Begleiter wie Cchraskar. Würde sie das schaffen, ging das überhaupt? Was war, wenn sie drüben in Schwierigkeiten geriet? Dann könnte niemand ihr helfen und niemand würde je erfahren, was mit ihr geschehen war …
Sie nahm einen Schluck Cayoral direkt aus der Kanne, die ihr Vater am Nachmittag aufgebrüht hatte. Dabei verschüttete sie ein paar Tropfen, und erschrocken sah sie, dass ihre Hände zitterten.
Du hast Angst, wurde es Alena klar. Und trotzdem willst du dorthin. Unbedingt. Was ist eigentlich mit dir los? Alle werden dich für verrückt halten. Und Pa wird schrecklich wütend auf dich sein.
Du bleibst hier ? ich möchte nicht, dass du gegen diese Biester kämpfst.
Immerhin: Davon, dass ich nicht über die Grenze gehen soll, hat er nichts gesagt, dachte Alena trotzig. Außerdem habe ich nichts versprochen. Er hat mich nicht gefragt und ich habe nicht Ja gesagt.
Sie brauchte jemanden, der ihr einen Rat geben konnte. Vielleicht war dieser Jemand nicht einmal ein lebendes Wesen. Nachdenklich zog Alena ihr Schwert. Ob es ihr noch einmal einen Traum schicken konnte? Sie strich mit den Fingern über den großen Smaragd, der im Griff eingebettet war. Bei ihrem Kampf gegen den Weißen Panther hatte ihr Schwert ihr durch Träume geholfen, ihr einen Weg gezeigt, wie sie mit dem Dämon fertig werden konnte …
Alena legte die Hand um den Ledergriff ihres Schwerts und zwang sich, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, zur Ruhe zu kommen. Sie musste einschlafen! Doch die Nachricht vom Fall der Grenze, die Aufregung, ließ sich nicht so leicht verdrängen. Es schien ewig zu dauern, bis ihre Augenlider schwer wurden, bis sie es schaffte, wegzudämmern …
Wirbelnder Nebel. Alena sieht kaum die Hand vor dem Gesicht. Nervös bleibt sie stehen, blickt sich um, versucht im weißen Nirgendwo etwas zu erkennen. Schritt für Schritt wagt sie sich hinein ins Unbekannte. Doch auf einmal kann sie es kaum mehr erwarten, anzukommen. Freude durchpulst sie. Sie beginnt zu rennen, obwohl sie nicht sieht wohin. Der Nebel lichtet sich etwas, gerade genug, dass Alena eine eigenartige Landschaft dahinter ahnen kann, und eine schlanke Gestalt, die sich gegen den hellen Himmel abzeichnet …
Mit einem Ruck erwachte Alena. Der Cayoral, den sie vorhin verschüttet hatte, war noch nicht getrocknet; sie konnte kaum mehr als ein paar Momente geschlafen haben. Langsam löste sie die Finger vom Griff ihres Smaragdschwerts. Ein Echo der Freude, die sie vorhin gespürt hatte, kehrte zurück, als sie an den Traum dachte. Jetzt war sie sicher, dass sie jenseits der Grenze etwas Wunderbares finden konnte. Etwas, das ihr Leben verändern würde.
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