„Wie sehen die Wesen denn aus?“, rief jemand.
Das Gesicht des Boten verzerrte sich. „Wie lebende massige Steine, aber Steine, die Mensch und Tier zerfleischen können. Eins der Dörfer in Grenznähe haben sie in einer einzigen Nacht ausgelöscht, es gab keine Überlebenden.“
„Eins ist sicher ? die Erd-Gilde wird’s nicht schaffen, mit den Biestern fertig zu werden“, flüsterte Jelica Alena ins Ohr.
Alena nickte. Im Gegensatz zur Feuer-Gilde waren die Erd-Leute friedlich, die meisten trugen nicht einmal Waffen.
„Vor allem brauchen wir Feuermeister“, erklärte der Bote. „Vielleicht gelingt es uns, den Turm neu zu beleben.“
Kilian schüttelte fassungslos den Kopf. „Hat der Kerl zu viel Beljas gekaut? Wenn die Türme vom Alten Volk gebaut worden sind, dann verstehen wir sie ja nicht einmal. Wie sollen wir sie dann reparieren?“
„Wir müssen es jedenfalls irgendwie hinkriegen“, sagte Alena. „Oder hast du Lust auf eine Herde blutdurstiger Wesen in eurem Erzlager?“
„Wir haben kein Erzlager“, zischte Kilian zurück.
„Dann halt in eurer Küche!“
Ein paar Leute beschwerten sich, sie sollten still sein. Alena und die anderen wandten sich wieder dem Boten zu, der gerade erklärte, an welcher Stelle die Wesen durchgebrochen waren und was die Truppe der Regentin inzwischen über sie herausgefunden hatte. „Feuer scheint ihnen nicht zu schaden, doch sie mögen Licht nicht. Man kann sie mit einem Schwert verletzen, aber nur sehr schwer töten. Wir haben gefällte Bäume als Barrieren verwendet, das hält sie etwas auf, wenn auch nicht lange. Sie fressen sich überall durch. Und sie ermüden nicht, sie folgen ihrem Opfer einfach so lange, bis es nicht mehr kann, und töten es …“
Ein paar Meter weiter leuchtete das helle Haar von Zarko aus der Menge. Er streifte sie mit einem kalten Blick. „Na, ist euch der Mut schon durchgerostet?“
„Zarko, kümmer dich um deine eigenen Klingen, ja?“, fauchte Jelica.
Hm, dachte Alena. Seit Kilian und Jelica nicht mehr zu Zarkos Gefolgsleuten zählen, ist die Stimmung zwischen ihnen deutlich abgekühlt!
„Ich wette, ihr seht die Grenze nicht mal von weitem“, flüsterte Zarko grinsend.
Alena zuckte die Schultern und beachtete ihn nicht mehr. Wieder schaute sie sich nach ihrem Vater um. Wo blieb er? Es konnte nicht sein, dass er von diesem Aufruhr nichts mitbekommen hatte! Auch Zarko hatte bemerkt, dass ihr Vater fehlte. „Na, traut er sich nicht her?“ Sein Grinsen wurde noch breiter.
Alena kniff leicht die Augen zusammen und blickte ihn ein paar Sekunden lang intensiv an, ohne zu blinzeln. Zarko wurde blass und wandte sich ab. Wirkt immer, dachte Alena zufrieden. Rena hatte ihr das beigebracht und erzählt, dass ihre Mutter Alix – die seit langem tot war – diesen „Raubtierblick“ gerne eingesetzt hatte. Rena selbst konnte ihn nicht nutzen. Sie war einfach zu nett, und das merkte man.
Ein Mann drängte sich durch die Menge. Alenas Herz machte einen Satz, als sie ihren Vater erkannte. Sie wollte ihm etwas zurufen … doch als sie sah, dass er zwischen den Menschen hinaustrat und auf den Boten zuging, vergaß sie es. Was hatte ihr Pa vor? Er war sehr förmlich gekleidet und trug seine Kampftracht. Es wurde still auf dem Dorfplatz, viele Augen folgten ihm.
„Ich weiß vielleicht, wie wir den Turm wieder in Gang bekommen“, sagte ihr Vater und seine klare, feste Stimme war überall auf dem Platz zu verstehen.
Der Bote musterte ihn erstaunt. „Wer seid Ihr?“
„Tavian ke Tassos“, antwortete ihr Vater, und Alena konnte sehen, dass der Bote sofort auf der Hut war. Eins war klar, er kannte die alten Geschichten.
„Dem Propheten des Phönix ist es damals geglückt, über die Grenze zu kommen und einen der Türme zu nutzen“, fuhr Tavian nüchtern fort. „Er hat mir etwas von dem erzählt, was er über sie herausgefunden hat. Deshalb weiß ich wahrscheinlich mehr darüber als jeder andere Mensch auf Daresh. Ich stelle mich Euch zur Verfügung.“
Der Bote hatte sich schnell von seiner Überraschung erholt. „Dann würde ich vorschlagen, dass Ihr noch heute Nacht abreist. Ich bin froh, dass Ihr helfen könnt.“
„Bleibt abzuwarten“, meinte Tavian grimmig. „Aber ich werde mein Bestes tun.“
Alenas Gefühle waren in Aufruhr. Ihr Pa würde nicht nur an der Grenze kämpfen, er würde jenseits von Daresh mit den Türmen helfen! Sie war stolz auf ihn und hatte gleichzeitig Angst. Es war gefährlich, was er vorhatte. Aber sie würde in trotzdem begleiten. Der Gedanke, die Grenze zu überschreiten, ließ ihr Herz schneller schlagen.
„Na also“, flüsterte sie Jelica zu. „Jetzt sehe ich doch noch, was auf der anderen Seite ist. Was ist, seid ihr dabei?“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dein Vater erlaubt, dass du mitgehst … und unsere Eltern werden ganz sicher etwas dagegen haben, dass wir mitgehen!“
Einen Moment lang war Alena besorgt. Doch dann legte sie die Hand an den Griff des Smaragdschwerts und erinnerte sich daran, dass sie ihre Feuerprobe bereits bestanden hatte. „Eigentlich kann mir mein Vater nichts mehr verbieten, schließlich bin ich schon Meisterin. Und eure Eltern … na ja, vielleicht schafft ihr es ja, sie zu überreden.“
Inzwischen hatten die Menschen begonnen unruhig zu tuscheln. Der Bote besann sich wieder auf seine Pflichten. „Jeder, der helfen möchte, begibt sich an die Stelle, wo die Grenze beschädigt ist“, rief er. „Dort organisiert der Rat der vier Gilden die Verteidigung. Es gibt Sammelpunkte in Fintar, Rellenjo und Girar, dort meldet ihr euch beim zuständigen Kommandanten der Freiwilligentruppen …“
Irgendjemand hatte ein zweites Dhatla gebracht, voll aufgezäumt schabte es mit den Grabkrallen auf dem Boden herum. Dunkel erhob sich sein riesiger gepanzerter Körper auf dem Dorfplatz.
Alena sah, dass ihr Vater zu ihr herüberkam. Dann stand er vor ihr, er roch nach Rauch und heißem Metall, dem unverwechselbaren Geruch der Schmiede. „Du bleibst hier ? ich möchte nicht, dass du gegen diese Biester kämpfst“, sagte er hastig und umarmte sie rasch. „In der Schmiede stehen noch zwei Meisterschwerter, die dringend fertig werden müssen – in ein paar Tagen kommt ein Kurier, der sie holt. Ich verlasse mich auf dich, Alena! Mach dir keine Sorgen, vielleicht bin ich schon in ein paar Wochen wieder da …“
„Aber …“, bekam Alena nur heraus.
Ihr Vater hörte sie nicht mehr. Er wechselte ein paar Worte mit dem Boten, dann zog er sich am Schuppenpanzer des Dhatlas hoch, das einem Meister aus dem Dorf gehörte. Die Erde bebte, als das Dhatla sich in Bewegung setzte und an ihnen vorbeistampfte. Der Bote ritt in der Gegenrichtung davon, aufs nächste Dorf zu.
Auf dem Dorfplatz, der von Hunderten qualmender Fackeln erleuchtet wurde, liefen aufgeregte Menschen umher, eilten die Bewohner von Gilmor laut diskutierend zu ihren Häusern, Schmieden und Ställen, um zu packen und sich von ihren Angehörigen zu verabschieden.
Wütend und enttäuscht blieb Alena auf dem Platz stehen und blickte hinter den Dhatlas her, die schon fast in der Dunkelheit verschwunden waren.
„So viel zu unserem Abenteuer an der Grenze“, sagte Kilian und seufzte.
***
Das Gartenhaus von Kerrik und Lilas im Grünen Bezirk von Ekaterin war einer der wenigen Orte, an denen Jorak willkommen war. Kerrik führte Handelsexpeditionen in den Lixantha-Dschungel, in dem er aufgewachsen war und in den sich nur wenige Menschen hineinwagten. Jorak hatte vor einigen Wintern begonnen, seinem Freund dabei zu helfen – Lixantha erschreckte ihn nicht, da er es durch Kerrik als einen Ort der Wunder kennengelernt hatte. Seither waren sie nicht nur gute Freunde, sondern auch Geschäftspartner, obwohl Kerrik es geheim halten musste, dass er mit einem Gildenlosen zusammenarbeitete.
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