Sollte ich nun, etwa drei Jahre später, tatsächlich die Gelegenheit bekommen, das Versäumte nachzuholen und dieses Traumbild übers Internet zu erwerben? Ich konnte es kaum fassen, spürte aber, wie sich meine Stimmung ins Positive veränderte. Die Beschreibung war kurz und knapp und ließ darauf schließen, dass sich der Verkäufer nicht viel Mühe gab, für das Bild möglichst viel Geld herauszuschlagen. Vielleicht war der- oder diejenige aber auch sicher, dass sich genügend Insider um Die Hingabe bemühen würden. Mit lächerlichen zehn Euro sollte die Auktion beginnen, und bisher hatte sich noch keiner zu einem Gebot entschließen können. Ich klickte auf Artikel beobachten und schaute mir das nächste Bild an. Allerdings muss ich zugeben, dass ich dies nur noch halbherzig tat, denn meine Gedanken kreisten um das soeben wieder entdeckte Kunstwerk und ich fragte mich, warum ich den Kontakt zu der Künstlerin nicht weiter gepflegt hatte.
Sie war eine äußerst interessante Frau und schien durch ihre Arbeit in sich zu ruhen. Als ich mich mit ihr über ihre Bilder unterhielt, eröffnete sich mir eine ganz neue Welt und mir wurde klar, dass sie durch das Malen mehr von sich preisgab als es andere in einem persönlichen Gespräch zu tun vermochten. Sie hatte ihre inneren Mauern niedergerissen und damit ihre Seele für andere sichtbar gemacht. Dass sie sich dadurch auch verletzbar machte, störte sie weniger. Wer so malte wie sie, brauchte keine Worte und keinen Verstand, der immer darauf erpicht war, ein Scheinbild aufrechtzuerhalten. Als mir das bewusst wurde, erschien mir die Sprache im Gegensatz zur Malerei eher wie ein künstliches Produkt, obgleich ich eingestehen musste, dass man durch sie konkretere Sachverhalte wesentlich einfacher schildern konnte. Die Begegnung mit dieser außergewöhnlichen Künstlerin war nicht spurlos an mir vorübergegangen und ich musste oft an sie denken, wenn ich das Bild von ihr betrachtete, das über meinem Schreibtisch hing.
Im Moment kam ich nicht dorthin, weil ich es vermied, die schmale Wendeltreppe im Wohnzimmer nach oben zu steigen. Ich war nicht darauf angewiesen, das Klettern zu üben, weil mir meine Frau alle notwendigen Dinge einschließlich den Ordnern für die Steuer, heruntergebracht hatte. Doch nun reizte es mich, wieder mein Reich im ersten Stock zu betreten, auch wenn es eine größere Kraftanstrengung bedeutete. Zielstrebig humpelte ich zur Treppe und nahm meine Krücke in die linke Hand. Mit der rechten zog ich mich Stück für Stück am Geländer hoch. Ich merkte, wie sehr mein Körper angespannt war und brauchte eine Ewigkeit, bis ich endlich die Galerie erreicht hatte.
Mein Herz klopfte, aber nicht nur, weil mich dieser Ausflug viel Kraft gekostet hatte, sondern auch weil ich nicht wusste, was mich hinter dem breiten Bücherregal erwarten würde. Schließlich war ich über Monate nicht mehr hier gewesen und meine Frau hatte durch ihre Umräumaktion sicher einiges durcheinander gebracht. Als ich den hellen Raum betrat, fiel mein Blick sofort auf das Bild über dem Schreibtisch. Es hing unberührt an seinem Platz und strahlte die Ruhe aus, die ich immer so genossen hatte. Ich war erleichtert, obwohl ich mich fragte, was ich denn anderes erwartet hätte. Sicher, der Schreibtisch war das krasse Gegenteil und ich schluckte als ich mir überlegte, wie viele Stunden ich zum Aufräumen brauchte, aber ich war trotzdem guter Dinge. Während ich noch überlegte, ob ich mich jetzt gleich über das Papierchaos hermachen sollte, klingelte das Telefon. Natürlich lag es wieder dort, wo ich es nicht erreichen konnte. Warum hatte ich nicht daran gedacht, es einfach mitzunehmen?
Nach einer Weile schaltete sich wieder der Anrufbeantworter an. Sollte Franziska ruhig ein zweites Mal draufsprechen. Ich war jetzt eben nicht da, fertig. Aber nun probierte Markus, mich zu er-reichen. Er wollte wissen, wie es mir ginge und ob er irgendetwas für mich tun könne. “Nein, lass mich einfach in Ruhe und komme nicht noch einmal auf die Idee, mir meinen Geburtstag zu versauen”, rief ich nach unten, in der Gewissheit, meinen Frust losgeworden zu sein, ohne dass Markus mich hören konnte. Ich merkte, wie geschafft ich war und ich beschloss, mich erst einmal auf meine Couch zu legen, die einladend im Raum stand. Ich hatte sie bewusst nicht direkt an die Außenwand gestellt, weil ich keine Lust darauf verspürte, mir den Kopf am schrägen Glasdach anzudonnern. Abgesehen davon wirkt es großzügiger, wenn Möbelstücke locker im Raum angeordnet sind und nicht an den Wänden kleben.
Kaum hatte ich die dünne Baumwolldecke über mich gelegt, klingelte das Telefon erneut. Dieses Mal erkundigte sich meine Frau nach meinem Befinden und fragte, ob ich den Anrufbeantworter schon abgehörte hätte. Machte sie sich etwa Sorgen, weil ich mich noch nicht bei ihr gemeldet hatte? Oder war es das schlechte Gewissen, was sie dazu trieb, doch mal etwas von sich hören zu lassen? Meinetwegen sollte sie auch noch eine Weile etwas davon haben. Ich freute mich sogar ein bisschen, dass ich das Telefon unten vergessen hatte. Auf dieses Weise brauchte ich mich jetzt nicht mit meiner Frau auseinanderzusetzen und konnte einfach schlafen, was ich dringend nötig hatte und auch tat.
Ich weiß nicht mehr, was ich im Einzelnen träumte, aber an eine Szene kann ich mich noch gut erinnern. Unser Wohnzimmer war voller Menschen, die ich alle nicht kannte. Sie hatten maskenhafte Gesichter und trugen weiße Handschuhe, mit denen sie immer wieder ein Bild von der Wand nahmen, um es anschließend wieder an einen anderen Platz zu hängen. Sie brachten mich ganz durcheinander und mir wurde erst später klar, dass sie mich nur ablenken wollten, denn als sie sich von mir verabschiedet hatten und ich alles wieder rückgängig machen wollte, fehlte ein einziges Bild – ausgerechnet das über meinem Schreibtisch.
Als ich aufwachte, hörte ich Stimmen und erschrak. Nein, ich träumte nicht, im Wohnzimmer unterhielten sich zwei Menschen miteinander und ich erkannte sofort, um welche Personen es sich handelte. “Aber irgendwo muss er doch sein.” “Vielleicht wollte er einfach nur ein wenig an die frische Luft. Kann man ihm nicht verdenken, wenn er immer nur im Haus hockt. Ich würde unter solchen Umständen wahrscheinlich verrückt werden.” “Aber er ist doch gar nicht fähig dazu, eine längere Strecke zurückzulegen ohne fremde Hilfe.” Als ich richtig zu mir gekommen war wollte mich sofort bemerkbar machen, nach dem Motto Macht euch keine Sorgen, der alte Krüppel hat sich nur ein bisschen aufs Ohr gelegt, aber eine innere Stimme hielt mich zurück und ich verhielt mich still. Mal sehen, ob sie mich hier oben finden, dachte ich. Wenn man mir noch nicht einmal einen Spaziergang zutraute, würde man wohl kaum in meinem Arbeitszimmer nach mir suchen. Besonders schlau waren die beiden nicht. Ich musste schmunzeln, ein wenig Sorgen sollte sich meine Frau ruhig machen, das konnte nicht schaden.
Allerdings war es eher Markus, der sich Sorgen machte. “Sollen wir die Polizei rufen?” Ich lauschte gespannt, was nun kommen würde. “Nein, er muss wissen, was er tut. Wenn er meint, in der Gegend herumlaufen zu müssen, ohne mir Bescheid zu geben, soll er das machen. Er braucht nicht zu glauben, dass ich ihm hinterherlaufe, wie einem kleinen Kind. Er ist alt genug, um für sich zu sorgen.” Ich hatte mit vielem gerechnet, nur nicht mit einer solchen Antwort. Wie erstarrt lag ich da, unfähig mich zu rühren. “Und was ist, wenn er nach hinten raus in den Wald gegangen ist und ihm dort etwas zustößt”, bohrte Markus weiter. “Herr Gott noch mal, dann kann ich es auch nicht ändern. Die Rentenversicherung wird in die Hände klatschen und die Lebensversicherung laut aufschreien. Des einen Freud, des anderen Leid, oder wie heißt es so schön?” Sie war gereizt und ihre Stimme klang kalt und fremd, während sie deutlich machte, wie wichtig ich ihr war.
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