“Ich ziehe mich nur noch schnell um.” Eine halbe Stunde später verließ sie perfekt gestylt und in einem enganliegenden Hosenanzug das Haus. Ich war wieder allein und überlegte, ob ich mir eine Pizza in den Backofen schieben oder etwas beim Chinesen bestellen sollte. Nach langem Hin und Her, entschied ich mich für einen griechischen Salat, immer nach dem Motto: Wenn zwei sich streiten .... Als ich die Bestellung durchgegeben hatte, quälte ich mich noch einmal mit ein paar neuen krankengymnastischen Übungen. Ich hatte nun mehr denn je den Wunsch, wieder fit zu werden. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, schon in nächster Zeit sehr viel Kraft zu benötigen, und zwar nicht nur physischer Natur.
Nachdem ich den Salat gegessen hatte, begab ich mich in aller Ruhe wieder ins Wohnzimmer und setzte mich an den Computer. Die Hingabe lag inzwischen bei 125 Euro. Ein weiterer Interessent war hinzugekommen und hatte sich an die Spitze gesetzt. Sollten sie sich ruhig gegenseitig überbieten, ich konnte abwarten, jedenfalls, was das Bieten betraf. In einem anderen Punkt war ich eher neugieriger. Ich öffnete noch einmal die Mail, die ich vor gut zwei Stunden erhalten hatte und überlegte, welche Erinnerungen mit diesem Bild verbunden sein mochten, die einen Menschen dazu veranlassten, es im Internet regelrecht zu verscherbeln. Wie selbstverständlich ging ich mit den Cursor auf Antworten und schrieb.
Guten Abend Frau Lichtblau,
vielen Dank für Ihre Antwort. Ehrlich gesagt hatte ich eher damit gerechnet, dass Sie meine Frage gar nicht beantworten oder nur sehr allgemein. Es war nicht meine Absicht, in Ihnen unangenehme Erinnerungen wachzurütteln. Aber es freut mich, dass Sie mir so offen entgegengetreten sind.
Ich habe großes Interesse an dem Bild, weil ich es vor ein paar Jahren schon einmal bei einer Auktion ersteigern wollte, es aber nicht bekam. Hinterher ärgerte ich mich fürchterlich darüber, aber da war es zu spät. Mal sehen, ob ich dieses Mal mehr Glück haben werde.
Mit freundlichen Grüßen
Jörg Zadek
Nachdem ich die Mail weggeschickt hatte, überlegte ich, ob ich noch einmal in Franziskas Zimmer gehen sollte, entschied mich aber, dies lieber auf die kommende Woche zu verschieben, wenn sie mich nicht plötzlich überraschen konnte. Wer weiß, wie lange sie mit Dorothee an diesem Abend zusammensitzen würde und ob die beiden später noch zu uns kämen. Deshalb entschloss ich mich dazu, langsam aber sicher die Ordner für den Steuerberater auf den neuesten Stand zu bringen. Ich mochte diese trockene Arbeit zwar nicht besonders, aber irgendwann hätte ich sie ohnehin erledigen müssen, und im Moment konnte ich Ablenkung gebrauchen.
Franziska und ich hatten wie in jedem Jahr fast fünf Ordner mit unseren Belegen und Rechnungen gefüllt. Also machte ich mich an die Arbeit und stürzte mich in die Tiefen der Quittungsflut in der Hoffnung, dieses Kapitel möglichst bald abschließen zu können. Als das Telefon klingelte, war ich dermaßen in meine Arbeit vertieft, dass ich ohne weiter zu überlegen aufstand und ein paar Schritte ging, ehe ich begriff, dass ich ganz ohne jegliches Hilfsmittel humpelte. Ich brauchte eine Weile, um diesen Fortschritt zu realisieren, hangelte mich dann aber vorsichtig wieder zurück, aus lauter Angst vor meiner eigenen Courage. Trotzdem machte es mich stolz und ich merkte, dass ich dabei war, mir ein Stück meiner verloren gegangenen Mobilität langsam aber sicher zurückzuerobern.
“Liebling, mach dir keine Sorgen, ich komme erst sehr spät zurück. Gehe ruhig schon ins Bett” hörte ich Franziskas Stimme auf den Anrufbeantworter sprechen. Sie ging mir auf diese Weise schon wieder geschickt aus dem Weg. Einerseits war ich froh darüber, andererseits hätte ich mich gefreut, wenn sie früher nach Hause gekommen wäre. Weder mein Herz noch mein Verstand wollten den Tatsachen so richtig ins Auge blicken. Sie wollten einfach nicht begreifen, dass meine Frau mich belog und ich sie vermutlich längst verloren hatte.
Inzwischen war es bereits kurz nach 22 Uhr und ich beschloss, die Belege bis zum nächsten Tag liegen zu lassen. Ich wollte nur noch einen Blick in meinen virtuellen Briefkasten werfen und mich dann in die Federn begeben.
Guten Abend Herr Zadek,
wie kommen Sie denn darauf, dass Sie mit Ihrer Nachfrage "unangenehme Erinnerungen" wachrütteln? Davon habe ich kein Wort geschrieben. Sie gehen davon aus, dass Erinnerungen, von denen man sich trennen muss, zwangsläufig negativer Natur sein müssen. Aber das sehe ich anders; manchmal sind es sogar die besonders schönen, die man hinter sich lassen sollte, um selber wieder für ein neues Leben frei sein zu können.
Ich wünsche Ihnen alles Gute beim Ersteigern und bin sicher, dass Sie dieses Mal wissen, was Ihnen "Die Hingabe" wert ist.
Martina Lichtblau
Schon wieder verblüffte mich diese Frau durch ihre Art, eine einfache Mail zu beantworten. Natürlich hatte sie Recht. Vor vier Jahren wusste ich nicht, wie viel mir dieses Bild wert war. Das wurde mir erst später bewusst. Aber noch viel mehr beschäftigte mich etwas anderes. Gibt es wirklich schöne Erinnerungen, von denen man sich trennen möchte? Sind sie es nicht, die dem Leben oft erst die nötige Tiefe geben, es bunter und gehaltvoller machen? Mir kamen häufig Bilder aus meiner Kindheit in den Sinn, die mir dann stets ein wohliges Gefühl vermittelten, als hätte ich sie gerade erlebt. Nein, auf all die schönen Erinnerungen in meinem Leben wollte ich nicht verzichten, zumal sie es waren, die mein Leben maßgeblich mit geprägt und mich zu dem Menschen gemacht hatten, der ich jetzt war. Manchmal denke ich sogar, dass ich sie wie kostbare Schätze verwahrte, damit mir keine von ihnen verloren gehen konnte.
Mir fiel spontan eine nette Episode aus meiner Kindheit ein. Damals war ich vielleicht gerade mal drei Jahre gewesen. Wir feierten gemeinsam mit meinen Großeltern Weihnachten. Als ich ins Wohnzimmer kam, saß direkt unter dem Baum ein Teddy. Er bewachte die Geschenke, die meine Schwester und ich bekommen sollten. Als ich ihn sah, stürzte ich mich sofort auf ihn und sicherte mir auf diese Weise die Adoptionsrechte. Ich muss der glücklichste Mensch auf Erden gewesen sein. Ob der Teddy allerdings wirklich für mich bestimmt war, weiß ich bis heute nicht. Außerdem musste ich zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht wusste, was aus eben diesem Kuschelteddy inzwischen geworden war. Schade, denn er hatte immerhin 15 Jahre meines Lebens mit mir verbracht. Ich beschloss, irgendwann einmal in den alten Kisten auf dem Dachboden nach ihm zu suchen, obgleich ich keine großen Hoffnungen hatte, ihn zu finden. Vermutlich ging er bei einem meiner Umzüge verloren.
Bei dem Gedanken an ihn, kamen mir schon wieder Erinnerungen in den Sinn, die ich zusammen mit ihm erlebt hatte. Sie waren in Vergessenheit geraten und kamen nun mit einem Mal an die Oberfläche. Warum hatte ich eigentlich all die Jahre so wenig an früher gedacht? Schämte ich mich, weil ich in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen war und diese so ganz und gar nicht mehr in mein jetziges Leben passten?
Mit Franziska hatte ich nie über meine Kinder- und Jugendzeit gesprochen. Im Grunde wusste ich auch herzlich wenig über ihre. Als sie in mein Leben trat, gab es für uns offenbar nur noch ein gemeinsames Jetzt und Hier. Wenn ich es mir recht überlege, vermieden wir es wohl beide ganz bewusst, etwas über die Vergangenheit des anderen zu erfahren. Vielleicht, weil jeder es selber als unangenehm empfunden hätte, längst vergessene Dinge dem anderen zu offenbaren.
Ich wollte meiner Frau jedenfalls nicht erzählen, dass mein Vater im Alter von gerade mal 45 Jahren zum Alkoholiker wurde und als solcher meine Mutter mindestens einmal pro Monat schlug. Ich hatte ihn dafür gehasst und am liebsten mit bloßen Händen erwürgt. Aber ich war erst zwölf Jahre alt und fühlte mich zu klein, als dass ich etwas gegen diesen Mann hätte ausrichten können. Damals schwor ich mir, dass ich niemals die Hand gegen eine Frau erheben würde; ein Gelübde, das ich bis heute eingehalten habe. In Konfliktsituationen ziehe ich mich nach wie vor lieber zurück, um einen kühlen Kopf zu bewahren und erst einmal über alles nachzudenken.
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