Das Telefon klingelte und ließ mich aufhorchen. Ich hatte es planmäßig auf der Station liegen lassen, schließlich war ich offiziell nicht zu Hause. Der Anrufbeantworter schaltete sich pflichtbewusst ein, wurde aber enttäuscht, denn der Mensch am anderen Ende der Leitung legte einfach auf. Ich machte mir darüber keine weiteren Gedanken, sollte er doch zu einem späteren Zeitpunkt ruhig noch einmal anrufen. Erst jetzt merkte ich, wie mich die Physiotherapie geschlaucht hatte und wie müde ich war. Die schwüle Luft tat ihr Übriges, sodass ich wenig später einschlief.
“Wo haben Sie Ihren Lebensberechtigungsschein?” Neben mir stand ein Mann in einem Nachthemd und rosafarbenen Pantoffeln mit hohen Absätzen. Seine lächerliche Erscheinung schien ihm selber entgangen zu sein, denn er verzog keine Miene. Das einzige, was zu seinem strengen Auftreten passte, war seine Kopfbedeckung. Sie musste der krönende Abschluss einer Uniform aus dem 19. Jahrhundert gewesen sein. Bei diesem Mann passte nichts zusammen und ich musste an ein Spiel denken, mit dem ich mich als Kind häufig beschäftigt hatte. Es bestand aus Karten, von denen man immer drei zusammenlegen musste, bis sie eine Person ergaben. Der Spaß an der Sache war der, dass jeder Kopf, mit jedem Ober- und mit jedem Unterkörper kombiniert werden konnte, sodass sich je nach Lust und Laune die kuriosesten Typen kreieren ließen. Nun musste wohl jemand eine dieser Gestalten zum Leben erweckt und zu mir geschickt haben. Nur verstand ich beim besten Willen nicht, was diese Witzfigur von mir wollte. Wonach sollte ich suchen? Um Zeit zu gewinnen, kramte ich in meinen Hosentaschen und beförderte alle möglichen Dinge hervor, unter anderem eine zerbrochene Zahnbürste, deren Borsten bereits ziemlich heruntergewirtschaftet waren, eine Muschel, ein Taschenmesser, einen zerknüllten Einkaufszettel und ein Stück Kreide. Der Mann wurde ungeduldig und sprach irgendetwas von eliminieren und alles müsse seine Ordnung haben. Dann drehte er sich um und verschwand. Aus der Ferne hörte ich, wie er sich mit einem anderen Mann unterhielt, aber ich konnte nichts verstehen. Die Stimmen wurden deutlicher und plötzlich war ich hellwach.
Ich musste das Öffnen der Haustür nicht mitbekommen haben, sodass ich erst jetzt wahrnahm, dass ich nicht alleine war. Die Männer aus meinem Traum hatten sich in die Wirklichkeit geschlichen und sprachen nun im Erdgeschoss miteinander. Einer von ihnen war Markus, die Stimme des anderen konnte ich keiner mir bekannten Person zuordnen, obwohl mich das seltsame Krächzen an einen Arzt erinnerte, den ich vor Jahren einmal betreut hatte. Was wollten die beiden hier? Warum hatte Markus noch jemanden zu seinem Schäferstündchen mitgebracht und wo blieb Franziska? Ich hätte aufstehen und ein Stück nach vorne laufen müssen, um etwas sehen zu können, zog es aber vor, mich lieber nicht zu rühren. Sollten sie sich da unten in Sicherheit wiegen. Plötzlich hörte ich, wie sie die Wendeltreppe hochstiegen. Ahnten sie etwa, dass ich mich im ersten Stock aufhielt, um sie zu belauschen? Ich hielt die Luft an, als ob ich mich dadurch unsichtbar hätte machen können. Aber sie wollten nicht zu mir, sondern wie sich herausstellte, in das Arbeitszimmer meiner Frau.
Es lag auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie und war ursprünglich vom Architekten als Gästezimmer geplant worden. Er meinte in der Planungsphase, dass ich es durchaus als Kinderzimmer nutzen könnte, was ich weit von mir wies. Damals hatte ich überhaupt keinen Kopf für derartige Gedanken und wollte nur ein Haus, das meinem extravaganten Geschmack entsprach. Ich konnte es mir leisten, denn meine Patentante hatte mir ein beachtliches Erbe hinterlassen, als ich gerade mal 23 Jahre war. Außerdem verdiente ich zu dem Zeitpunkt schon überdurchschnittlich gut, sodass ich auch hinsichtlich der Einrichtung mehr oder weniger aus dem Vollen schöpfen konnte.
Nach unserer Hochzeit richtete sich Franziska in dem ehemaligen Gäste- und Pseudokinderzimmer ein kleines Atelier ein, um auch zu Hause Portraits machen zu können. Auf diese Weise wollte sie sich einen größeren Kundenstamm sichern. Schließlich war ihr Fotostudio und damit ihre Haupteinnahmequelle mitten in der Stadt. Wer nicht so weit fahren wollte und trotzdem etwas Besonderes erwartete, konnte zu ihr nach Hause kommen, was aber nur selten wahrgenommen wurde. Jedenfalls war ich bisher davon ausgegangen, musste mir aber nun eingestehen, dass ich mit dieser Vermutung falsch lag. Die Sache begann spannender zu werden als sie bereits war. Was wollten die beiden Männer in Franziskas Zimmer? Und wo blieb meine Frau? Sie musste diejenige gewesen sein, die Markus und seinen Begleiter hierher bestellt hatte, und zwar zu einer Zeit, in der ich ihrer Meinung nach nicht zu Hause war.
Ich richtete mich auf und überlegte, ob ich zur anderen Seite der Galerie humpeln sollte, um dem Gespräch der beiden zu lauschen, aber dazu sollte ich keine Gelegenheit bekommen, denn plötzlich hörte ich die Haustür ins Schloss fallen. Anschließend vernahm ich Schritte, die dem Geräusch nach zu urteilen eindeutig von Damenschuhen erzeugt wurden, und ich meinte auch, diejenige zu kennen, die sie trug und nun die Treppe heraufkam. Wie zu erwarten, verschwand auch sie in dem geheimnisvollen Zimmer am anderen Ende der Galerie. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begannen für mich die schlimmsten 60 Minuten meines Lebens, denn meine Fantasie suchte nach immer neuen Erklärungen für das, was ich soeben gehört hatte, und ich war einfach nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen und entsprechend zu handeln.
Mein Blick fiel auf das Bild über meinem Schreibtisch und ich hatte den Eindruck, dass es irgendwie beruhigend auf mich wirkte, wenn man in einer solchen Situation überhaupt davon sprechen konnte. Was es genau darstellte, darüber hatte ich bisher nie nachgedacht. Warum auch, abstrakte Bilder wirken auf einer Bewusstseinsebene, die der Verstand im Grunde nie erreicht. Ich weiß noch genau, wie die Künstlerin damals lachte, als ich ihr sagte, dass ich es verkehrt herum aufhängen wollte, weil es mir so besser gefiele. Der helle Horizont wirkte hoffnungsvoll und freundlich, offen und ehrlich, während die dunklen Blautöne, die eigentlich den oberen Teil ausmachten, mit dem gelblichen Schimmer in der Mitte irgendetwas zu verbergen schienen. Zugegeben, das Bild wirkte dadurch geheimnisvoller, aber mir war die Klarheit des Lichts wesentlich lieber und deshalb hing es verkehrt herum an der Wand, womit mich meine Frau des Öfteren aufzog. Für sie war das Spiel von Licht und Schatten alltäglich und sie konnte mit der Dunkelheit wesentlich besser umgehen als ich. Vielleicht hing das mit ihrer Arbeit zusammen, aber vermutlich war es eher eine Frage des Typs.
Aus dem Zimmer gegenüber hörte ich den Song Sorry Seems To Be The Hardest Word. Während Elton John sich mit einem der schwierigsten Wörter auseinander setzte, versuchte ich, nicht die Beherrschung zu verlieren, was mir wohl nur gelang, weil ich körperlich nicht in der Lage gewesen wäre, Markus und seinen Begleiter vor die Tür zu setzen. Ich hockte einfach nur in mich zusammengekauert da, den Blick auf das Bild vor mir gerichtet und hoffte, bald von diesem Albtraum erlöst zu werden.
Plötzlich begriff ich, dass nicht die abstrakte Welt vor mir auf dem Kopf stand, sondern die reale um mich herum. Nichts stimmte mehr, alles war ins Wanken geraten, was ich bisher als konstant und unverrückbar in meinem Leben betrachtet hatte. Reichte es nicht, dass ich mich nach dem Unfall körperlich neu orientieren musste? Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass ich vor einem seelischen Scherbenhaufen stand und nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
Langsam erhob ich mich von meiner Couch, nahm die Krücke und humpelte zum Schreibtisch. Ich lehnte mich gegen ihn und nahm das Bild von der Wand, um es anschließend, seiner Bestimmung entsprechend, wieder richtig herum an seinen Platz zu hängen. Ich wollte wenigstens in diesem Punkt Ordnung schaffen. Es war wohl an der Zeit, mich mit den dunklen Seiten des Lebens auseinanderzusetzen.
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