Als sie die Augen wieder öffnete, starrte sie ihn an. Woher kamen diese Bilder? Was hatten sie zu bedeuten?
Sie fragte es ihn. Er lächelte, drehte sich leicht in seinem Sessel, formte mit seinen Händen eine Raute, legte den Kopf etwas schief und fragte schließlich zurück.
»Was hindert sie daran, dieses Leben zu führen?«
Sie wusste keine Antwort, Tränen rannen ihr übers Gesicht. Erst, als ein kleines Rinnsal von ihrem Kinn in die Mulde zwischen den Schlüsselbeinen tropfte und dort einen kleinen See bilden wollte, merkte sie, dass sie weinte.
Seit dieser Sitzung hatte sie zwei Mal ihre Termine abgesagt und verschoben, denn es war genau das eingetreten, das absolute No Go: Tränen! Beim Therapeuten! Sie! Wo sie doch diejenige mit den Fäden in der Hand war, sie bestimmte, wieviel und was sie ihm preisgab!
Eliza wälzte diesen Vorfall nun seitdem hin und her, zudem tauchten regelmäßig Bilder der Vision von Brooklyn auf, Bilder, die sie nicht einordnen konnte, die jedoch einen tiefen, bisher unbekannten Seelenfrieden in ihr auslösten. Es war ihr zwei Mal passiert sich dabei zu ertappen, wie sie mehrmals hintereinander »Brooklyn, Brooklyn« flüsterte, sie mochte es, wie das »klyn« über das sanfte »Broo« stolperte, es hatte etwas Überraschtes, es klang frisch und verheißungsvoll. Das Ganze war und blieb ihr vor allem ein Rätsel.
Sie trank ihren Espresso in einem Zug aus. Es hatte keinen Sinn weiter darüber zu grübeln, die leeren Medikamentenschachteln sprachen eine klare Sprache, sie musste wieder hin.
Außerdem war da ja noch Mutter und die Vereinbarung.
»Ich denke, es ist klüger, du kooperierst, ma chérie! Frage dich immer, ob du mit den Konsequenzen leben könntest!« Sie schob sie im Geiste rasch zur Seite, sonst würde alles noch schlimmer werden und beschloss, ihre Hypnoseseance sofort abzuhalten. Anschließend, mit erfrischtem Geist, würden sich ihre Gedanken besser sortieren lassen und sie könnte für die anstehende Sitzung passende Sätze sowie ihre champagnerfarbene Seidenbluse zum dunkelblauen Bleistiftrock zurechtlegen.
So zog sie, wie jeden Tag, die schweren Samtvorhänge der raumhohen Fenster zu, stellte ihre Leopardenballerinas sorgfältig nebeneinander hin und schwang sich auf den Edelstahltisch.
Den Kopf platzierte sie auf ein kleines, quadratisches Kissen genau unter den Luster, so, dass sie in seine glänzenden Kristallzapfen hochblicken konnte. Sie strich die zwei Hälften des Kimonos glatt und zog den Knoten des Gürtels in die Mitte, genau über ihren Bauchnabel. Dann erst nahm sie die erste Fernbedienung ihrer Anlage in die Hand, um die bereitgelegte CD zu starten, mit der zweiten schaltete sie die Sonnenlichtspots ein, die genau so ausgerichtet waren, dass sie von Kopf bis Fuß beleuchtet war. Die in der Decke eingebauten Lautsprecher beschallten sie die ersten drei Minuten mit Meeresrauschen, bevor die angeleitete Hypnose begann und in fünfundvierzig Minuten enden würde.
Sie setzte ihre schwarze Sonnenbrille auf und war bereit.
Der Wecker hatte sicher noch nicht geklingelt. Oder doch?
Lena wollte sich mit dieser Frage eigentlich gar nicht beschäftigen, sondern rasch in die Traumlandschaft zurückschlüpfen, durch die sie fuhr. Der Himmel offen, so weit, so blau! Sanft abfallende Hügeln verschmolzen mit dem durch schwarze Wolkenfäden verwobenen Horizont und in diese Verschmelzung fuhr sie, ganz unangestrengt zurückgelehnt, mit dem Zug. Sie wusste nicht, wohin er sie bringen sollte, doch wusste sie, dass es wichtig war, sie hatte eine Aufgabe, sie musste …
Irgendetwas rüttelte, riss an ihr. Egon. Nicht der schon wieder!
»Nein, geh weg! Lass mich schlafen!« Sie drehte sich zur Seite, wollte ihre Augen fest zupressen, doch davor hatten diese mürrisch die digitale Anzeige angeblinzelt.
07:10. Schonungslos, in Leuchtschrift.
Sieben Uhr ZEHN? Das konnte doch nicht sein! Lena sprang aus dem Bett, hastete zum Kinderzimmer, riss die Tür auf, machte das Licht an.
»Kinder! Kinder! Aufstehen! Wir haben verschlafen! AUFSTEHEN!! Schnell, schnell, schnell, raus aus den Betten!«, dazu schaltete sie das Licht ein und aus und ein und aus und wieder ein, stolperte über das Playmobilschiff, unterdrückte einen Fluch, zupfte an den Bettdecken und an den kleinen Füßen, die sich sofort darunter zurückzogen wie Schneckenfühler, wenn Gefahr droht.
Was für eine grausame Welt, in der man Kinder aufwecken musste! Alles in ihr sträubte sich dagegen, trotzdem zupfte sie weiter, plapperte auf sie ein, flehte sie an. Wie kleine Katzen streckten sie sich kurz, um sich dann sofort wieder mit einem Schwung zur Seite zu drehen und einzurollen. Am liebsten hätte sie die Kleinen wieder zugedeckt, sich dazugelegt, anstatt vor ihren Betten:
»Go! Go! Go!« zu rufen und dazu hysterisch herumzuhüpfen.
»In zwanzig Minuten müsst ihr zum Bus und ich zur Arbeit! Kommt schon: Auf, auf, auf!!«
Widerwillig krabbelten sie aus ihren Nestern und brachen ihren letzten Rekord um drei Minuten. In siebzehn Minuten hatten sie zwar wenig, aber doch etwas gefrühstückt, ihre Zähne geputzt, eine nicht hundertprozentig gesunde, aber nahrhafte Jause in den Schultaschen und waren startbereit für den Bus. Lena schob sie durch die Türe, warf ihnen Küsschen nach und winkte hinterher. Als sie um die Ecke gestolpert waren, lehnte sie sich an den Türrahmen und atmete tief durch. Wie sie diese Hetzereien satt hatte.
»Das hast du dir selbst eingebrockt!«, raunte ihr Egon mit seinem süffisantesten Lächeln zu. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum in der Hoffnung, er würde verschwinden, doch er ließ sich nicht abwimmeln. Wie eine Fliege, dachte sie. Da half nur noch ignorieren. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie die alte Holztreppe hoch und beschloss, sich einen kleinen Espresso zu gönnen, schließlich würde der Tag noch lang werden.
»Ja, er wird tatsächlich lang werden dein Tag, vor allem, wenn du dir hier einen Espresso aufstellst, anstatt den Frühstückstisch abzuräumen!« Irgendwann war einfach Schluss. Sie drehte sich mit einem Ruck um, Egon schreckte wie ein vom Misthaufen verstoßener Gockel hoch.
»So Cowboy, deine Moralpredigt kannst du dir sparen! Außerdem habe ich jetzt keine, aber schon gar keine Zeit, um mit dir zu diskutieren!« Sie wandte sich ihrer geliebten, pure Zuversicht verströmenden, kleinen italienischen Espressokanne zu, schraubte sie auseinander, klopfte den alten Kaffeesatz heraus, spülte das Sieb durch, füllte es mit frischem Kaffee, strich ihn glatt. Hatte sie soeben ihr Flashback angefahren? Stritt sie mit einer Illusion, einem Hirngespinst? Nachdem sie den Behälter mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie das Sieb ein und schraubte den oberen Teil drauf, ganz fest.
Ihr fiel ein, wie beleidigt Tom am Vorabend gewesen war, wie unflexibel er reagiert hatte. Er hatte sogar die Nudeln weggeschmissen, wie kindisch war das denn? Schließlich schnitten sich die Kinder ja nicht jeden Tag gegenseitig die Haare und dabei ins Ohr! Sie schüttelte den Kopf und drehte die Kanne noch etwas fester zu. Jedes Mal, wenn Tom daneben stand, wenn sie das tat, kam die selbe Leier.
»So, genau SO machst du die Espressokanne kaputt, weil du SO den Dichtungsring abnutzt und SO der Dichtungsring irgendwann zerreißt!« Nun, sie mochte es eben nicht, wenn das kochende Wasser dazwischen heraussprudelte, wenn sie nicht gut genug zugeschraubt war. Musste sie sich eigentlich deswegen rechtfertigen? Wie sie ihre Kanne zuschraubte? Wirklich?
Heute Morgen war er extra früh zur Arbeit gegangen und würde extra spät heimkommen. Ab übermorgen wird er für den Rest der Woche auf Fortbildungskurs sein und somit ergab sich keine gemeinsame Mahlzeit mehr, als Strafe sozusagen. Hätte sie nur seine Nudelkreation gegessen, dann wäre das nicht nötig gewesen. Toms vorwurfsvolles Kopfschütteln vor Augen, schraubte sie die Kanne so fest zu, bis ihre Knöchel weiß wurden. Egon steppte vor ihr mit Zylinder und Stock zwischen Abwaschbecken und den Küchenfliesen entlang. Ignorieren, ignorieren!
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