Frida öffnete den Haupteingang und dazu ihre Arme und rief ein »Herzlich Willkommen in La Flora!« aus. José war dabei, mit Pedro Gepäckstücke aus dem Kleinbus zu hieven und funkelte sie kurz an.
Sofort verkrampfte sich ihr Nacken, als würde sie dort hochgehoben und leicht geschüttelt.
Endlich! Geschafft! Eliza sperrte die Türe ihrer im vierten Stock gelegenen Altbauwohnung auf, öffnete sie behutsam, um sich dann rasch hineingleiten zu lassen. Sie atmete tief aus, als sie die Türe mit ihrem Rücken schloss und wieder ein und wieder langsam aus, bevor sie ihre Augen über den vertrauten Flur streichen ließ, um dann weiter in den großen Wohnraum zu wandern, wo der Luster mit seinen kleinen Kristallen klimperte, was der Luftzug ausgelöst hatte, als die Türe ins Schloss gefallen war. Unter dem Luster stand der große Edelstahltisch, blank poliert und leer. In diesen Raum würde sie mit vierzehn, wohlabgeschätzten Schritten gehen, aber erst, nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und ihre Schuhe im rechten Winkel auf die dafür vorgesehene Ablage gestellt hatte. Sie behielt ihn im Visier, den Luster, solange bis die letzten Kristallstäbchen aufgehört hatten zu klingen. Erst dann war sie bereit für den nächsten Schritt. Schritt für Schritt, so kam sie zurecht.
Es war mittlerweile sechs Uhr fünfzehn in der Früh und sie hörte, wie sich das Ehepaar der Nachbarwohnung auf den Weg zur Arbeit machte. Dass sie, bevor diese Leute das Haus verließen, zuhause angekommen war, deutete sie als gutes Zeichen für den bevorstehenden Tag. Wie sie es verabscheute, im Stiegenhaus Smalltalk zu führen! Schon alleine der Gedanke, jemanden, der keine Ahnung von ihrem Leben hatte, und doch so nah neben ihr wohnte, einfach so zu grüßen, als wäre alles einfach und vielleicht sogar froh, löste bei ihr tiefsitzendes Unbehagen aus. Was für eine abstruse Idee, Fremden einen schönen Tag zu wünschen, unreflektiert herumzuwünschen, so, als würde man es auch so meinen, ohne den Anderen zu kennen, ohne einen Hauch von Ahnung.
Sie lauschte den leiser werdenden Kristallen.
Als es ganz still geworden war, glitt sie aus ihrem Mantel und ihren Schuhen, schlüpfte in ihre mit Leopardenmuster verzierten Ballerinas, dann in den dunkelblauen Seidenkimono, um lautlos in die Wohnküche zu gleiten. Vor der Espressomaschine blieb sie stehen, drehte sich auf der Stelle im Kreis, behutsam und präzise wie ihre Bewegungen wanderten auch ihre Augen über die hohen Wände, die spärlichen, aber eleganten Wohnzimmermöbel, die Türe zu ihrem Zimmer, genau drei Zentimeter geöffnet, den Edelstahltisch und wieder zur Küchenzeile.
Erst jetzt konnte sie den Siebträger aus der Maschine lösen, um ihn mit frischem Kaffee zu füllen. Bis die Maschine vorgeheizt war, schloss sie kurz die Augen und entschied, dass heute ein Tag war, an dem sie nicht sofort schlafen gehen würde. Ihre nächste Schicht begann erst um 22 Uhr, davor gab sie sich vier Stunden Schlaf, in jeweils zwei Stunden aufgeteilt, das musste genügen.
Es war die Traumwelt, die sie in Zaum halten wollte. Die Traumwelt, die unberechenbar über sie hinwegbrach, wie gigantische Wellen ihren gesamten Morast aufzuwühlen vermochten und aus denen sie irgendwann völlig desorientiert durch ihre eigenen Schreie wieder an Land gespuckt wurde. Nun, das würde bald für immer der Vergangenheit angehören. Sie hatte einen Plan, an dem sie feilte, bis er perfekt war.
Ihre Schlafzeiten verlegte sie auf den Tag, auch wenn sie nicht arbeitete und spaltete sie in ein bis zwei kurze Tiefschlafphasen auf, die sie durch wirkungsvolle und präzis dosierte Medikamente so sehr verstärkte, dass sie traumlos blieben. Zudem begab sie sich einmal täglich in einen tiefenentspannten Zustand, in den sie sich, beleuchtet mit drei sonnenlichtimitierenden Spots, durch audiogeleitete Hypnose selbst hineinversetzte. Ihrem Körper sollte es an nichts fehlen, so aß sie hauptsächlich grünes Obst und Gemüse, welches ihr durch sein Chlorophyll zusätzlich wertvolles, gespeichertes Sonnenlicht lieferte. Nachts bei der Arbeit trank sie zwei Liter Matétee, zuhause ihre Espressi.
Wie jetzt. Das Lämpchen leuchtete auffordernd, die Maschine war vorgeheizt, endlich. Sie stellte die Tasse darunter, drückte den Knopf und sog den aufsteigenden Duft tief ein. Bilder der vergangenen Nacht tauchten auf, sie versuchte, sie zur Wohnungstüre zu scheuchen, ihnen keine Wichtigkeit beizumessen, ihnen keinen Wert zu schenken. Es war ja nur Arbeit. Arbeit, die Ablenkung schenken sollte. Doch je länger sie für die Reinigungsfirma arbeitete, desto öfter hatte sie das Gefühl, die Gerüche der Putzmittel könnten bis in ihre tiefsten Hautzellen gelangen und das, obwohl sie Handschuhe und ein Kopftuch trug! Der scharfe Zitrusduft des Bodenreinigers, der nie im Leben eine echte Zitrone gesehen hatte, schien an ihren Händen zu kleben. Wie jetzt, wenn sie die Tasse hochhob. Viel schlimmer noch war der chlorhaltige WC-Reiniger, der ihre Duftbahnen regelrecht niedertrampeln wollte. Doch solange der Duft von frischem Espresso sich noch darüberzulegen vermochte, vertrieb sie mit ihm die Gedanken an die Arbeit und den dazugehörigen Gerüchen.
Sie blickte auf ihre verchromte Küchenuhr, deren römische Zahlen sie darauf hinwiesen, dass in exakt fünf Stunden und fünfundzwanzig Minuten ihr Therapeutengespräch stattfinden würde. Was sollte sie ihm heute erzählen? Noch schlimmer: Was würde er sie fragen? Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen, hielt sich an ihrer kleinen Tasse fest und blickte über deren Rand zum Edelstahltisch und weiter bis zu ihrer drei Zentimeter geöffneten Zimmertüre. Wie verlockend so ein Schläfchen jetzt wäre. Doch die Zeit war noch nicht reif, sie musste sich erst mental auf den bevorstehenden Termin vorbereiten, denn ein Blick in den Badezimmerschrank hatte ihr gestern Abend verraten, dass es Zeit für eine neue Rezeptausstellung war. Deswegen hatte sie diesmal nicht abgesagt.
Beim letzten Termin hatte er sie gefragt, ob sie dieses Jahr der alljährlichen Aufforderung ihrer Mutter, mit ihr die Festspiele zu besuchen, nachkommen würde. Diese Frage stellte er jedes Jahr einen Monat zuvor und sie war in eine Schockstarre verfallen, es war ihr unmöglich gewesen zu antworten. Wie auch im Jahr zuvor. Also würde er sie heute wieder darauf ansprechen. Sie hatte sich selbstverständlich eine Antwort zurechtgelegt, wie auch im Jahr zuvor, welche sie ihm auf eine eloquente Art und Weise darbringen wollte. Doch in diesen Momenten war alles weg. Kalter Schweiß rann über ihre Wirbelsäule, ihre Augen fixierten einen imaginären Punkt und ihr Atem wurde flach. Wie sollte ihr da etwas vorher Zurechtgelegtes wieder einfallen?
Er würde sie bestimmt wieder nach ihren sozialen Kontakten fragen. Abgesehen davon, dass ihn das, genauso wenig wie die Festspielangelegenheit, nicht wirklich etwas anging, fand sie dieses Thema total überbewertet. Sie kam ja zurecht.
Bei dieser letzten Sitzung hatte er sie zu einem Visionsspiel angeleitet. Sie sollte sich vorstellen, an einem anderen Ort zu leben und alles was sie sah, genau beschreiben. Das Erste, das ihr in den Sinn käme, wäre gut. Sie schloss, wie angeleitet, ihre Augen und sah sich plötzlich in Brooklyn. Ganz eindeutig, denn sie hatte von einem Backsteinhausdach eine wundervolle Aussicht auf die Brücke und die New Yorker Skyline. Sie war über dieses gestochen scharfe Bild sehr überrascht, hätte sie sich, mit ein wenig mehr Zeit, eher in einem mit Orangenbäumen gesäumten Lavendelfeld gesehen. Doch Zeit ließ er ihr nicht. Sie sollte alles genau beschreiben. Die Jahreszeit, die Farbe des Himmels, die vorbeiziehenden Wolken, den Geruch auf der Straße, im Deli, in ihrer Wohnung, wie sie sich fühlte, was sie trug. Sie hörte Gehupe und Sirenengeheul, sah mit Kaugummi verklebte Mülleimer und Grafitti an den Wänden. Sie behielt die ganze Zeit über die Augen geschlossen, lief Straßen entlang, saß in Cafés, besuchte Ausstellungen, traf Menschen. Menschen! Sie, Eliza, traf Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, neben denen sie sich gut fühlte! Auf der anderen Seite des großen Teiches.
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