Lena pfefferte die seit Jahren ungebrauchten Fonduegabeln in den Müllsack. Spätestens zum Geburtstag vom Kleinen würde sie all den Zweifel und die Missgunst ihrer Schwiegermutter und Schwägerin abbekommen. Lena riss noch die Gugelhupfform aus der Lade, starrte sie an. Die hatte doch eindeutig Rost am oberen Rand, weg damit! So, das genügte für heute, der Vorratsschrank kam ein anderes Mal dran.
Kurz darauf fuhr sie mit dem Kofferraum voller Müllsäcke zum Bauhof, wo ihr der erste freundliche Mensch des Nachmittags die Tore öffnete. Mit Schwung schmiss sie alle Säcke in den riesigen Container und fühlte sich sogleich im wahrsten Sinne erleichtert. Als sie den Kofferraum zuschlug, hörte sie ein Piepen aus ihrer hinteren Jeanstasche.
Eine SMS: NICHT VERGESSEN! HEUTE 19:00 STAMMTISCH !
Herrje! Vor lauter Ehekrise hätte sie beinahe ihren Frauenstammtisch im Bierlokal vergessen!
Zuhause im Innenhof angekommen, hörte sie schon die Stimmen ihrer Kinder, die aufgeregt über Kaulquappen und geschossene Tore berichteten. Lena nahm zwei Stufen auf einmal und wurde von ihren kleinen Männern herzlich begrüßt. Wie Äffchen hingen sie sich ihr um den Hals und redeten dabei beide gleichzeitig auf sie ein. Tom stand mit dem Rücken zu ihr und schnitt Brotscheiben für die Kinder ab.
Er schwieg.
Rasch, rasch, sie musste sich einen Plan zurechtlegen, wie sie ihn an den Stammtisch erinnern konnte, den sie vergessen hatte in den Familienkalender einzutragen und somit Grund zu einer weiteren Debatte gäbe. Energie für eine zweite Runde im Ring hatte sie keine mehr.
»Wo bist du gewesen?« Mit seinen stahlblauen Augen starrte er sie plötzlich direkt an, er schien sie gar zu durchleuchten. Sie hielt seinen Blick, zog ihre linke Augenbraue hoch und schwieg.
Sich wieder den Kindern zuwendend, füllte sie Wassergläser auf, stellte Wurst und Käse auf den Tisch. Das Geplapper der Kinder prasselte auf sie ein wie ein erfrischender Sommerregen. Tom schlurfte aus der Küche, seine schwerfälligen Tritte auf der Treppe tönten nach.
»Schauspieler!«, dachte sie sich noch, als sie die Tür zum Garten hörte. Als die Kinder fertig gegessen hatten, gab sie ihnen noch zehn Minuten vor ihrem Termin mit der Badewanne, eine Gelegenheit, die sie fluchtartig ergriffen.
Nach einer kurzen Suche fand sie ihren Mann unter der Balsampappel stehen. Der typisch starke Geruch des Baumes verbreitete sich, kroch in ihre Nasenlöcher, ob sie wollte oder nicht. Da stand er, zupfte an den Blättern und erinnerte sie ein wenig an die Kinder, wenn sie schmollten.
Ein Schmunzeln zupfte an ihren Mundwinkeln somit wartete sie ein wenig ab, denn jetzt galt es, souverän zu bleiben.
»Ach hier bist du!«, hoffentlich fasste er das nicht als Vorwurf auf. Er brummelte Unverständliches.
»Nun, ich habe es vergessen dir zu sagen, heute ist Frauenstammtischtag.« Pause. »Kannst du bitte die Kinder in die Wanne und dann ins Bett stecken?«
Er nickte seufzend: »Ja, ja, geh nur, ist mir doch egal!«
Sie überhörte den Pathos in seiner Stimme und bedankte sich höflich. »Also Tschüß!«
Müde hob er die Hand zum Gruß, sah aber nicht zu ihr hin, sondern zupfte noch ein wenig an den Blättern rum. Zum Umziehen blieb keine Zeit, was schlussendlich auch egal war, sie ging ja nur ins Bierlokal.
Lena schnappte sich ihre Jacke, verabschiedete sich von den Kindern, schwang sich aufs Rad und radelte los. Wie sie den Wind im Gesicht und den Haaren genoss! Ihr fiel ein, dass sie sich nicht gekämmt hatte, was ja spätestens bei der Ankunft sowieso überflüssig geworden wäre.
Vor dem Gasthaus lehnte sie ihr Rad an die Wand und trat in die verrauchte Stube. Ganz hinten in einer Ecke saßen schon Lotte und Margot und hoben ihr Bier zum Gruß.
»Du siehst aber Scheiße aus!«, rief Lotte und hielt sich gleich darauf den Mund zu.
»Danke, das ist es, was ich jetzt brauche!«, lachte Lena, schälte sich aus ihrer Jacke und versuchte gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu ergattern.
»Was war denn los?« Gegen Lottes Blick waren Röntgenstrahlen ein weiches Flimmern über dem Horizont nach Sonnenuntergang. Sah man ihr das jetzt wirklich an? Stand es auf der Stirn geschrieben? War sie solch ein offenes Buch? Nun, für diese zwei Damen hier anscheinend schon, schließlich kannten sie sich, seit sie vierzehn Jahre alt waren.
»Schieß los, Baby!«, raunte ihr Margot zu und stupfte sie mit dem Ellenbogen in die Rippen.
»Nun, ich …« Wie gerne hätte sie erst einen Schluck Bier genommen, bevor sie erzählen sollte. Sie machte der Kellnerin ein Handzeichen und wurde gnädigerweise wahrgenommen. Es ging ihr sofort besser. Sie holte ihren Tabak aus ihrer Jackentasche, begann sich eine Zigarette zu drehen und fragte, wer noch kommen würde.
»Birgit kommt fix, aber erst später und Rosie kommt, wenn ihr Mann rechtzeitig heimkommt.«
»Wenn ihr Mann rechtzeitig heimkommt«, hieß soviel wie, dass er sicher nicht rechtzeitig heimkommen würde, es vorher schon weiß, es ihr aber nicht sagt. Wie die letzten drei oder sogar vier Mal. Er würde so viel später heimkommen, dass sie schon zu müde wäre, um noch wegzugehen oder eines ihrer vier Kinder hätte bis dahin irgendeinen Grund, sie davon abzuhalten.
»Also, Lena, gab es Krach zuhause?«, Lotte ließ nicht locker. Endlich kam das Bier. Sie nahm einen ordentlichen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und räusperte sich: »Das kannst du laut sagen, dass es gekracht hat.«
Die zwei schauten sich fragend an.
»Jetzt erzähl schon!«
»Ich hab eigentlich nur die Kaffeekanne an die Wand geschmissen! Die aus Glas.«
Kurzes Schweigen.
»Mit Kaffee oder ohne?«
»Na, mit allem! Mit Sud und Kaffee! Verdammt, die ganze Küche war voll damit!« Lotte und Margot schauten sich kurz an, konnten sich nicht mehr zurückhalten und brachen in lautes Gelächter aus.
»Bravo!«, rief Lotte. Margot wischte sich eine Träne ab und klopfte ihr auf die Schulter. Lena durfte erst auf die Toilette gehen, als sie alle Einzelheiten erzählt hatte. Als sie zurückkam, war schon ein anderes Thema angeschnitten, Birgit war eingetroffen. Sie war vor kurzem in ihr lang ersehntes Reihenhäuschen gezogen, doch es gab ein Problem. Ihr Mann Frank besuchte einen Meditationskurs und hatte den begehbaren Schrank dazu auserkoren, um täglich darin zu meditieren. Die Vorstellung, wie er darin saß und nicht gestört werden durfte, brachte den Tisch zum Wiehern. Birgit verdrehte die Augen, ließ sich dann doch anstecken.
Mit dem lauen Abendwind radelte Lena ein paar Stunden später nicht mehr so geradlinig, wie sie gekommen war, nachhause. Sie schob ihr Rad in den Schuppen und wankte in den Garten. Verlockend schaukelte die Hängematte hin und her, überdacht vom Blätterwerk der zwei Kirschbäume.
Sie legte sich hinein, nur kurz. Nur ein wenig frische Luft schnappen und die Ruhe genießen. Durch die Blätter hindurch sah sie die Sterne funkeln. Bis sie einschlief.
Sie hatte die Nacht bei ihren Hühnern verbracht. Es war grauenvoll gewesen. Als sie der Hahn noch vor Anbruch des Tages geweckt hatte, war sie erst vor kurzem eingenickt. Ihr erster Gedanke war, ihn in den Kochtopf zu schmeißen. Darüber war sie zutiefst erschrocken. So kannte sie sich gar nicht, war doch jede ihrer Zellen mit Liebe und Friede durchflutet!
Bis gestern. Mit jedem knochenmarkdurchbohrendem Krähen schoss es wieder mit aller Deutlichkeit in ihre verletzten Zellen, was sie gesehen hatte. Frida rappelte sich aus dem Stroh, stand auf und klopfte sich ihr Kleid ab. Sie musste von hier verschwinden, bevor ihr ein Gast über den Weg lief. Der Gedanke, einfach zu verschwinden, gefiel ihr mit jedem Schritt, den sie durch den Garten Richtung Finca tat, immer besser. Es war wohl die einzige Lösung überhaupt. Verschwinden, sich in Luft auflösen. Der Wind peitschte ihre Haare ins Gesicht als hätte sie nicht schon genug Schmerzen.
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