Sie überlegte gerade, wo das Glas mit den Steinpilzen eigentlich genau war, als die Geräuschkulisse verebbte und ein Hoffnungsschimmer ins Schneckengehäuse strahlte. Vorsichtig streckte sie einen Fühler aus. Er saß jetzt vor sich hin brummelnd am Küchentisch und schüttelte hin und wieder leicht den Kopf, ziemlich versunken sah das aus. Das als gutes Zeichen deutend kroch sie hervor, um zu bemerken, dass sie sich zu früh gefreut hatte.
»Du glaubst nicht an mich!«, murmelte er. Kopfschütteln. Er starrte auf die Tischplatte. »Nie bist du jemals hinter mir gestanden! Ich gebe dir alles, einfach alles, aber du …« Wieder schüttelte er seinen Kopf.
Ohne noch großartig nachdenken zu können, in welcher Windung ihres Schneckenhauses sie sich gerade befand, schoss sie hervor und ihr ganzes Wesen bäumte sich vor ihm auf. Er starrte sie an, als wäre er überrascht, sie überhaupt hier anzutreffen.
»Was hast du da eben gesagt?« Er wagte es zu wiederholen. Irgendetwas, etwas das sie in dieser Intensität schon lange nicht mehr gespürt hatte, machte sich in ihrem Körper breit, suchte sich seinen direkten Weg hinaus. Sie stand direkt vor ihm, er schaukelte halbherzig auf dem Küchensessel herum, sah zu ihr hoch. In seinen Augen spiegelte sich etwas, was sie noch nie darin gesehen hatte.
Angst.
Davon beflügelt schlug sie mit der Faust auf den Tisch. Sie spürte keinerlei Schmerz was sie zwar wunderte, doch dafür war jetzt keine Zeit.
»Wie bitte?!«
Was hatte ihre Stimme plötzlich für ein Volumen! Irre, dass man den Knopf so weit aufdrehen konnte!
»Von Beginn an stehe ich hinter all deinen Scheißplänen, Mister Ich-muss-nächste-Woche-wieder-zur-Fortbildung-fahren! So sieht es nämlich aus!!«
»Irgendwer muss ja hier mehr Geld verdienen, um diesen Kredit zurückzuzahlen! Den DU aufnehmen wolltest.«
»Wolltest?!« Wurde ihre Stimme gerade schrill?
»Das Dach war kaputt und zwei Wände schimmlig, nur zur Erinnerung!«
Ihre linke Faust schlug nochmals kräftig auf die Tischplatte, während ihre rechte Hand hinter ihr suchte denn sie musste etwas nach ihm schmeißen. Sofort! Sie umfasste das Erstbeste, was sie kriegen konnte, starrte ihn weiter an.
»Ist dir überhaupt klar, dass du schon wie deine Mutter sprichst?« Plötzlich flog sie, die Kaffeekanne aus Glas, quer durch die Küche und landete knapp über seinem Kopf an der Wand über dem vor sich hin trocknenden Geschirr.
Ungläubig starrten beide dorthin, wo sich nun Kaffee, dazugehöriger Kaffeesatz und unzählige kleine Scherben mit dem plötzlich entstandenen Schweigen und all dem Unmut mischten, um gemeinsam unbeirrt die Fliesen herunterzusickern.
Er fasste sich als Erster, stand auf, sah auf sie hinab.
»Hör gut zu, Lena! Diesen Schaden wirst du nie wieder gutmachen können! Nie!«
Aus alter Gewohnheit wollte sie schon erstarren, doch da fiel ihr auf, das irgendetwas anders war.
»Was ich kaputt mache, räume ich auch wieder auf! Und jetzt: Verschwinde aus meiner Küche!«
Sie konnte ihn nicht mehr ansehen, seine verbitterten Züge, die Abscheu in seinen Augen. Doch sie hielt seinen Blick stand. Er spuckte auf den Boden vor ihre Füße und ging aus der Küche.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, als sie schon dachte, sie würde dieses Schweigen im Haus gemischt mit seiner Präsenz nicht mehr aushalten, hörte sie, wie die Türe ins Schloss fiel. Ihr Arm zitterte noch ein wenig, als sie den Schwamm in die Hand nahm, um die große schwarze Spur an der Wand damit nachzufahren.
Eine Stunde später waren die Scherben zusammengeklaubt, die Fliesen glänzten wieder und sogar der Boden war gesaugt und gewischt. In ihrem Elan beschloss Lena, dass sie sich von ein paar unnützen Dingen trennen könnte, wenn sie schon dabei war. Ein schwarzer Müllsack an der einen Türklinke, eine Papiertüte an der anderen, die Schubladen und Schränke weit geöffnet, schmiss sie all die Dinge weg, die im Weg herumstanden.
Ohne abzuwägen, ohne sie in der Hand hin und herzudrehen und wieder zurückzustellen. Großzügig schob sie alles ihr überflüssig Gewordene in die Säcke. In einer halben Stunde würden die Jungs vom Fußballtraining kommen. Sie hatte also noch etwas Luft.
Eigentlich hatte sie andere Pläne für ihren freien Nachmittag gehabt, als hier die Scherben ihrer Ehe in den Müll zu schmeißen. Mit der Gondel hatte sie auf ihren Hausberg fahren wollen, um dort ein wenig herumzuspazieren, die Aussicht zu genießen, einen überteuerten Filterkaffee zu trinken und wäre wieder, mit dem Gefühl etwas Gesundes getan zu haben, in ihre Nebelsuppe gefahren. Wenn es auch nur für kurze Zeit frische Bergluft schnuppern war, wären die Batterien aufgeladen gewesen. Wären gewesen.
Sie nahm eine Salatschüssel und schmiss sie, ohne nachzudenken, weg. Sicher würde er jetzt schon sein Handy überprüfen und sich fragen, warum sie ihm noch keine wutschnaubenden SMS geschrieben hatte. Diesmal nicht, nein, diesmal war er zu weit gegangen. Er mit seinem »armen Ich«! Sollte er sich doch bei seiner Mutter selbst leidtun, sollten sie einen gemeinsamen Leidgesang anstimmen. Ha! Er tat ja gerade so, als würde er den Kredit alleine zurückzahlen. Dass sie jedes zweite Wochenende arbeitete und immer mehr Nachtschichten einlegte, zählte wohl nicht. »Den Kredit, den du unbedingt haben wolltest! » äffte sie ihn nach. Ha! Ha! Und schon flog seine braune Tasse in den Sack. Als wäre sie eine verwöhnte Gör, die ihre Luxuswünsche durchsetzen wollte. Dabei musste das Haus saniert werden, ein kaputtes Dach ist ja kein Poolhäuschen.
Mittlerweile würde er bei seiner Mutter in der Küche auf der Eckbank sitzen, wo über der heiligen Marienstatue eine Klebefliegenfalle hing, in der wahrscheinlich jetzt gerade eine Fliege ihre letzten Flügelschläge tat. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung und ging zur Schublade unter dem Backofen über. Wer brauchte schon zwei Tortenringe? Zack, einer weniger! Sie wird ihm ungefragt ein Bier hinstellen und
»Sag, was hast du denn, Bub? Ich sehe doch, dass was nicht stimmt!«, fragen. Er wird mit dem Kopf schütteln und aus dem Fenster starren, über die Kuhweide, weiter bis über den Hügel, ins Nichts.
Dann würden sich ihre Hände in die Vordertaschen ihrer Schürze einwringen. »Mir kannst du es doch sagen! War sie wieder böse zu dir?« Nach einem kräftigen Schluck von seinem Bier würde er kopfschüttelnd weiter hinausstarren.
»Nein, Mama, alles Bestens!«, in einem Tonfall, den seine Mutter, sobald die Haustüre hinter ihm zu wäre, veranlassen würde, zum Telefon zu greifen, um ihre Schwester anzurufen und anschließend ihre Tochter, um den Ernst der Lage zu besprechen. Ob ihnen vielleicht irgendetwas aufgefallen war, ob sie vielleicht was wissen? Er schaut ja so schlecht aus, so bekümmert, so blaß. Und abgenommen hat er auch! Dieses eine Mal könnte sie sich vielleicht noch verkneifen anzudeuten, dass er doch besser die hochgewachsene Arzttochter geheiratet hätte. Es war zu spät! Was sollte sie noch weiter in seinen Wunden schüren, wusste er es doch sicher selbst, was ihm da entgangen war. Die hatte sogar Jus studiert und sogar den Doktor gemacht! Aber nein, diese Dahergelaufene musste er sich aussuchen, mit dem alten Holzhaus. Gebetet und gebetet und gebetet hatte sie für ihn, würde sie sich verkneifen ihm zu sagen. Schon nach nur vier Monaten hatte die sich von ihm ein Kind machen lassen.
Das hinterhältige Luder! Hatte sich doch nur einen Blöden gesucht, der Schulden für ihr altes Haus aufnimmt und dann brav abzahlt. Weil sie ja wusste, was er alles durchmachte, würde sie das alles hinunterschlucken, für sich behalten, still weiterbeten. Litt er doch schon genug, ihr Bub!
Seine Mutter würde ihm Würstel anbieten, die er wiederholt ablehnen würde. Das auch noch! Den Appetit hatte das Luder ihm auch genommen! Eine weitere Fliege würde sich verfangen und die heilige Maria würde es mitansehen.
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