Aber Frau Mühlbeck ignoriert es und umarmt sie mit mütterlicher Geste. „Wir freuen uns so, dass du da bist. Wie war denn die Fahrt?“
„Ruhig, nichts Besonderes“, antwortet sie.
„Schön. Komm, ich nehme dir wenigstens die Mappe ab. Gustav wartet draußen. Er will den neuen Wagen nicht alleine lassen.“ Frau Mühlbeck nimmt die Mappe und geht voran.
Während sie gehen, blickt Lisa sich um. Noch nie war sie in einem so großen Gebäude und hat noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Na, denn!
Vor dem Bahnhofsgebäude fällt ihre Aufmerksamkeit auf ein riesiges Plakat. ‚Alle sollen besser leben’ steht darauf. Es ist Werbung für eine Industrie- und Konsumausstellung.
„Moment“, sagt Lisa, als sie draußen sind. Sie will sich erstmal umschauen und Luft holen. Es sind nicht so viele Menschen wie im Bahnhof zu sehen. Die meisten tragen gepflegte bis elegante Kleidung, als hätten sie eine geheime Absprache mit der Glockenkostümfrau aus dem Zug. Auf der Straße fahren einige blitzende Autos, aber es sind mehr Motorräder, Dreiradtransporter und hauptsächlich Fahrräder. Sie gehen weiter und kommen zum Parkplatz.
Gustav Mühlbeck steht neben einem nagelneuen 180er Mercedes. Mühlbeck reicht ihr die Hand und verstaut Koffer und Mappe im Kofferraum. Stolz setzt er sich ans Steuer. „Er ist gerade mal zwei Wochen alt. Hat nicht jeder.“
Lisa, die hinten sitzt, prüft das Polster mit der Hand und nickt anerkennend. „Ein schönes Auto“, sagt sie.
Mühlbeck fährt los. „52 Pferdestärken, kann über 100 km/h schnell fahren. Eine Wucht!“
Lisa blickt aus dem Fenster. „Ich dachte, es wäre mehr zerstört.“
„Viel weniger als in Köln. Da kann man von Glück reden“, antwortet Frau Mühlbeck. „Aber es hat auch hier gereicht.“
Lisa folgt den Mühlbecks in ihrer Villa durch ein üppig ausgestattetes Foyer. Freundlich lächelnd betrachtet sie altehrwürdige Kunstschinken an der Wand.
Im gediegenen Esszimmer gießt Frau Mühlbeck Kaffee ein. „Wenn der Herbert kommt, habt ihr einen schönen Anfang. Wir haben einiges zurückgelegt. Warum haben sie ihn bloß im letzten Kriegsjahr noch gezogen, mit 17 Jahren? Was eine Schande. Du und er könntet längst Kinder haben.“
Herr Mühlbeck setzt seine Tasse ab. „Es wär‘ mehr Schande, wenn er nie Soldat gewesen wär.“
„Er ist dein Sohn, Gustav“, wendet Frau Mühlbeck ein, „und ist jetzt in Gefangenschaft.“
„So ist der Krieg.“
„Schon gut.“
„Haben Sie was von ihm gehört?“, fragt Lisa.
„Nach dem letzten Brief nichts mehr. Den kennst du ja.“
„Aber am Bahnhof waren doch so viele von ihnen.“
„Sie dürfen wohl nicht alle schreiben, wann sie kommen.
Oder die Post kommt nicht durch. Ich weiß es nicht.“
Lisa blickt sich im vornehmen Esszimmer um. Frau Mühlbeck seufzt.
„Schade, dass deine Mutter nicht hier ist, es hätte ihr bestimmt gefallen.“
„Mutter in der Stadt? Das würde sie nicht überstehen.“
„Wir haben es doch auch geschafft!“, sagt Frau Mühlbeck.
„Ihr habt mit den Städtern Geschäfte gemacht, aber Vater ...“
„Ja, dein Vater war nicht in die Stadt zu kriegen.“
„Aber tief im Herzen gehören wir immer noch zum Land, nicht Gustav?“
Herr Mühlbeck hüstelt nur.
„Willst du nicht doch hier bleiben? Wir hätten wirklich Platz.“
„Danke nochmals. Ich will zunächst auf eigenen Füßen stehen. Wenn Sie das verstehen. Sie haben schon so viel für mich getan.“
Frau Mühlbeck zuckt die Schultern. „Na dann.“
Mühlbeck setzt Lisa vor einer Pension ab und trägt ihr Gepäck zur Tür. Die Mappe mit ihren alten Bildern nimmt sie selbst. Distanziert gibt er ihr die Hand. „Lisa – alles Gute.“
„Danke, Herr Mühlbeck.“ Lisa blickt ihm nach.
Er steigt in seinen neuen Wagen und winkt nur kurz über die Schulter, ohne sich umzuschauen. Lisa seufzt und klingelt an der Pensionstür. Die Inhaberin öffnet. Es ist eine stattliche, sehr weibliche Erscheinung, der Lisa gegenüber steht.
„Du musst das Fräulein Hollstein sein“, empfängt sie die Wirtin gluckernd, als habe sie gerade einen guten Witz gehört. „Ich bin die Martha – vor und zu.“
„Vor und zu?“, fragt Lisa.
„Martha, sonst nichts. Komm erstmal rein Mädel, damit ich dich beschnuppern kann.“
Lisa folgt ihr wie geheißen in eine Art Esszimmer. Das Haus ist schlicht, aber gemütlich eingerichtet.
„Kannst erstmal deine Sachen hier lassen. Wir trinken einen Kaffee und dann zeig ich dir dein Zimmer.“
Lisa stellt ihr Gepäck ab und setzt sich an einen Tisch. Martha gießt ihr ein.
„Echter Bohnenkaffee. Wir haben zurzeit mit dir fünf Gäste. Alles dabei: Buchhalter, Rechtsanwalt, Vertreter und auch eine Dame, du bist die zweite Frau.“
„Hat die Dame keinen Beruf?“
„Nein, sie ist nur Dame.“
„Aha!“
„Und du …Ich darf doch ‚du’ sagen?“
„Natürlich.“
„Und du willst Lehrerin werden?“
„Ich bin’s schon.“
„So, so.“
Lisa weiß nicht genau, wie sie diese Antwort deuten soll.
„Er ist also noch in Gefangenschaft?“
„Herbert? Ja.“
„Da musst du aufpassen.“
„Wieso?“
„Wenn die Männer zurückkommen, sind sie oft nicht mehr dieselben. Viele Frauen wissen das nicht, sind froh, wenn ihr Mann wieder da ist und merken zu spät, wie sehr er sich verändert hat.“
„Das ist nach der langen Gefangenschaft ja auch kein Wunder.“
„Schön! Du läufst mit offenen Augen durchs Leben.“
„Sind Sie … Bist du verheiratet?“
Martha seufzt. „Ich zeig dir mal was.“ Sie springt behände auf und holt ein kleines eingerahmtes Foto von der Anrichte. „Hier! Das ist Harry.“
Lisa blickt auf das Foto. „Ein Engländer!“
Martha gluckst wieder. „Ja, ein toller Typ. Er ist leider schon 1950 versetzt worden. So einen findet man nicht so schnell wieder.“
„Das heißt, du siehst ihn gar nicht mehr?“
„Leider nein.“
„Wo ist er jetzt stationiert?“
„Er ist wieder in England und …“
„Ja?“
„Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“ Ohne weitere Erklärung steht Martha auf und Lisa nimmt ihre Sachen und folgt ihr in ein kleines möbliertes Zimmer. Ein Bett, ein Schrank, ein Regal und ein kleiner Tisch mit einem Stuhl erwarten sie.
„Na?“, fragt Martha. „Das ist doch alles, was du brauchst.“ Martha schaut auf die Mappe. „Bilder?“
„Nur als Hobby.“
„Mmh“, ist Marthas einzige Reaktion.
Lisa fragt sich, warum Martha plötzlich so kurz angebunden ist, es muss etwas mit ihrem Harry zu tun haben.
„Ich lasse dich jetzt erstmal allein, ich muss das Abendessen vorbereiten.“
„Fräulein Martha!“, gellt plötzlich ein Ruf durch die Pension. Martha zuckt zusammen und läuft hinaus.
Lisa blickt ihr konsterniert hinterher, geht zur Tür, schließt sie bis auf einen Spalt und schaut hinaus. Sie sieht eine ältere Dame, die mit einem Regenschirm umherfuchtelt und lauthals deklamiert. Sie trägt ein rosafarbenes Kostüm im Stil der Vorkriegszeit, mit übergroßen Kragen, dazu einen blauen Hut mit Schleier.
„Mein Zimmer ist wieder mal nicht gelüftet. Ich werde mir noch die Parasitis holen. Mein holder Gatte würde sich im Grab rumdrehen, wenn er sähe, wie ich jetzt leben muss.“
Martha bleibt ruhig. „Frau Doktor, wenn Sie es wünschen, lüften wir gerne noch einmal.“
„Sind Sie verrückt? Soll ich mir eine Lungenentzündung holen?“
„Es ist schon besser, wenn Sie mir den Schirm geben. Sonst können Sie sich anstecken. Sie wissen doch – die Zellen.“
„Die Zellen, diese kleinen bösen Zellen? Ach ja, Sie haben Recht. Hier, der Schirm.“ Die ältere Dame übergibt Martha fast angeekelt den Schirm, um sich danach völlig ruhig zurückzuziehen.
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