In der Gewürzmühlstraße musste er nicht lange fahnden. Auf Anhieb entdeckte er das messingglänzende, nagelneue Klingelschild mit dem Namen Dr. Friedrich Gasteiger. Ein schönes Haus hatte sich der Bonvivant da für seine altersmüde Liebschaft ausgewählt, fand Tschusch, denn dass der Ausreißer sich hier ein seniorengerechtes Liebesnest gebaut hatte, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Was sonst sollte denn einen alten Herrn dazu bewegen, als es nochmal mit einer jungen Knusprigen krachen zu lassen, bevor Gevatter Tod an die Tür klopfte?
Er läutete, drei Mal, doch der gute Friedrich öffnete nicht. Tschusch hatte es nicht anders erwartet, er selbst hätte auch nicht reagiert, konnte ja die Frau Gemahlin unten an der Türe stehen. Er ging die paar Schritte zum Thierschplatz, entnahm dem Zeitungskasten die Tagesnachrichten und setzte sich auf eine Bank. Von hier aus hatte er einen optimalen Blick auf Gasteigers Wohnhaus. Tschusch überflog den Titelbericht. Einmal mehr drehte sich die öffentliche Diskussion um die Flüchtlingswelle aus Afrika, um die Abertausende Verzweifelter, die auf mickrigen Booten versuchten, über das Mittelmeer dem Elend zuhause zu entkommen, um irgendwie ins gelobte Paradies Europa zu gelangen. Ihm taten die Leute leid, die so vieles riskierten, nur um auch ein Stück vom Kuchen abzukriegen. Doch er interessierte sich nicht für Politik und legte die Zeitung alsbald zur Seite.
Am Hause Gasteiger rührte sich nichts. Er erhob sich, um noch einmal zu läuten, dieses Mal Sturm, aber der alte Herr war entweder wirklich nicht da oder stellte sich taub. Er klingelte im obersten Stockwerk und rief „Postkurier“ in die Gegensprechanlage, worauf ihm anstandslos geöffnet wurde. Gasteigers Wohnung befand sich in der Beletage. Er presste sein Ohr an die Eingangstüre und lauschte. Nichts war zu hören. Tschusch blieb eine ganze Stunde im Treppenhaus, horchte ab und an, bis er sich sicher war, dass der Mann sich nicht in der Wohnung aufhielt. Vielleicht ist er inzwischen gestorben, dachte er grimmig, denn Ehebrecher konnte er im Tod nicht ausstehen, selbst wenn er partiell davon lebte.
Für heute hatte er jedenfalls genug. Der Hunger hatte ein großes Loch in seinen Magen gebohrt, mit der Folge, dass Tschusch schon nicht mehr klar denken konnte. Auf dem Heimweg investierte er den zwanzig Euro Schein, den Betschwester Judith ihm á conto gegeben hatte, in Wurst und Brot und ein Gläschen Baby Brei und schlief schließlich vollgefressen vor dem Fernseher ein. Er erwachte, als in den Spätnachrichten erneut von der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer berichtet wurde, dass der Handel mit Menschen eine neue Dimension erreicht habe. Gewissenlose Schleuser hatten ein ausrangiertes türkisches Lastschiff, mit dem früher Vieh transportiert worden war, gechartert und mit tausenden Flüchtlingen vollgestopft. Die Mannschaft war dann in der Nacht heimlich von Bord gegangen und hatte das Schiff sich selbst überlassen. Bevor es an den Klippen der Insel Naxos zerschellte, war es Gott sei Dank von der griechischen Küstenwache aufgebracht und in den Hafen geschleppt worden.
Tschusch konnte das Elend schon nicht mehr hören, erinnerte es ihn doch an sein eigenes, selbst wenn er nicht um sein Leben kämpfen musste, sondern nur um seine Existenz. Er schaltete den Apparat aus und ging zu Bett, nicht ohne vorher noch ein Prickel Pit Brausebonbon aus seinem Prickel Pit Automaten gezogen zu haben. Den Automaten, der wohl der letzte in der Stadt, hatte er vor etlichen Jahren nach einer durchzechten Nacht irgendwo abgeschraubt und bei sich aufgestellt. Tschusch liebte Prickel Pit, das Brausebonbon seiner frühen Kindheit und die Sache mit dem Automaten Diebstahl hatte er nie bereut. So hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, statt Zähneputzen, zu dem er zu später Stunde zu faul war, sich den vom Tag abgenutzten Atem per Brause zu erfrischen, vorzugsweise mit Waldmeister Geschmack. Zufrieden plumpste er ins Bett und fiel in tiefen Schlaf.
An seine Träume konnte sich Tschusch stets erinnern. Sein Elefantengedächtnis ließ ihn selbst im Schlaf nicht im Stich und in jener Nacht hatte er einen sehr speziellen Traum. Ihm träumte, dass ein schwarzer Audi im Meer schwamm, vollgepresst mit dunkelhäutigen Menschen. Sogar auf dem Dach hatten welche Zuflucht vor den Haien gesucht, die um das anscheinend amphibische Fahrzeug kreisten. Die Haie selbst hatten menschliche Gesichter. Deutlich konnte er das von Pommi Hamberger und das von Peka Fidschi erkennen. Die anderen Haie ähnelten Politikern, deren Gestalten ihm vom Fernsehen geläufig waren. Sie versuchten, die sich an das Autodach Klammernden ins Wasser zu ziehen und einer der Haie, dessen dumme Fresse ihn an die Vorsitzende einer neuen, rechtsgerichteten Partei erinnerte, schrie dauernd: „ihr kommt mir nicht in unser deutsches Land, ihr kommt mir nicht in unser deutsches Land.“
Als Tschusch am Morgen erwachte, wusste er, was zu tun war. Dass er von dem schwarzen Audi geträumt hatte, schien ihm Menetekel genug. Und auch wenn ihm niemand glaubte, so hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann entführt worden war. Vielleicht waren die Kidnapper noch in der Stadt und da gab es nur eins: er musste den schwarzen Audi suchen.
Es klingelte. Tschusch blickte auf den Wecker. Schlag neun Uhr, Judith war wie immer überpünktlich. Einmal im Monat kam sie zu ihm zum Saubermachen, weil sie seinen „Saustall“, wie sie sagte, nicht ertrug. Doch warum läutete sie, wenn sie doch einen Schlüssel besaß? Er öffnete die Türe. Vor ihm stand Gustl Scharfreiter, sein persönlicher Gerichtsvollzieher und grinste.
„Überraschung“, fröhlichte er. „Da schaust du, was?“
„Scheiße“, entfuhr es Tschusch, „ich dachte, es ist Judith.“
„Deine Schwester hat doch einen Schlüssel“, sagte Gustl.
„Woher weißt du das“, fragte Tschusch verdutzt.
„Ich bin Gerichtsvollzieher, Tschusch, schon vergessen? Judith kommt gleich, ich habe sie unten auf der Straße gesehen.“
„Was willst du? Du warst doch erst vor zwei Wochen da.“
„Vor acht Wochen, Tschusch, vor acht Wochen. Aber du hast so viele Gläubiger und die machen mir pausenlos Druck. Meinst du, mir macht das Spaß? Ich habe den Leuten schon gesagt, dass bei dir so viele Kuckucks kleben, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich das nächste Pfandsiegel hinpappen soll. Aber es gibt halt welche, die sind hartnäckig.“
„Kuckucke“, berichtigte Tschusch. „Die Mehrzahl von Kuckuck ist Kuckucke, nicht Kuckucks.“
„Schön“, fand Gustl. „Und wie ist der wissenschaftliche Name, wenn wir schon bei Vögeln sind?“
„Cuculus canorus“, sagte Tschusch stolz.
Im Türschloss drehte sich ein Schlüssel. Judith kam herein, nicht im Geringsten verwundert, als sie den Gerichtsvollzieher sah.
„Hat er wieder was angestellt“, war die Begrüßung. Ihrem Tonfall nach zu schließen fragte sie schon gar nicht mehr danach. Sie setzte es bereits voraus.
„Nein“, sagte Gustl. „Nichts Neues, nur Altlasten.“
Tschusch schwitzte. Er wusste, dass Judith nie log. Wenn Gustl sich nun bei ihr bezüglich seiner Einnahmen erkundigte, würde es schlecht mit den zweitausend Euro ausschauen. Er versuchte abzulenken, streifte seinen Hemdsärmel hoch, machte wortlos die gefälschte Breitling Armbanduhr ab und reichte sie Gustl.
„Was soll ich damit“, fragte der, „die ist doch sicher nicht echt.“
„Natürlich nicht“, sagte Tschusch. „Aber es ist alles, was ich habe.“
Der Gerichtsvollzieher schaute ihn mitleidig an. „Ach Tschusch! Mir kommen gleich die Tränen. Behalt die Uhr! Hat sich sonst was ergeben, neue Aufträge, Vorauskasse vielleicht?“
„Er hat Geld gekriegt“, bestätigte Judith, obwohl Tschusch ihr hinter Gustls Rücken eindeutige Zeichen gab. „Zweitausend Euro.“
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