Pommilein, wie Tschusch sie bereits bei sich nannte, zeigte sich gleichwohl unbeeindruckt, im Gegenteil. Sie hatte herausgefunden, dass der Anzeigenerstatter Tjepko Bárbar Privatdetektiv war, ein Berufsstand, der sich bei hauptamtlichen Schnüfflern gelinde gesagt nicht besonderer Beliebtheit erfreute. Sie hielt Tschusch folglich für einen aufgeblasenen Wichtigtuer, der eine ganz und gar unpassende Show abzog, indem er irgendwelche Entführungen erfand.
„Herr Bárbar“, fiel sie ihm in seine blumigen Worte, „ich habe mir die Mühe gemacht und nachgeschaut: es wird niemand vermisst, auf den Ihre Beschreibung passt. Und das Kennzeichen gibt es ja auch nicht. Wollen Sie immer noch behaupten, Sie hätten eine Entführung beobachtet?“
Tschusch war irritiert. „Was ich gesehen habe, habe ich gesehen“ beharrte er. „Vielleicht lebt der Mann ja allein und pflegt keine sozialen Kontakte. Oder er ist Ausländer, was weiß ich. Es muss ja kein Deutscher gewesen sein. Jedenfalls wurde da einer gekidnappt.“
„Soso.“ Die Beamtin lächelte ihn in der Art nachsichtiger Freundlichkeit an, wie man den Schwindeleien kleiner Kinder begegnet. Oder Schwachsinnigen. Tschusch verstand. Hatte er POM Hamberger aufgrund ihres blonden Haarschopfes und ihrer lustigen Kugeläuglein bislang mit einem Wintergoldhähnchen verglichen, Europas kleinsten und wohl auch putzigsten Vogel, mit einem hübsch gelben Kopfgefieder, so war sie jetzt ein Basstölpel für ihn, die größte Tölpel Art, einem gänsegroßen Vieh, dem auch seine gelbe Rübe nicht darüber hinweg half, dass es sich an Land reichlich schwerfällig bewegte.
Es war eine der Unarten Tschuschs, dass er Menschen ornithologisch einordnete, ein Erbe seines seligen Vaters, der sich selbst als einen Zilpzalp bezeichnet hatte; warum, wusste allerdings niemand. Erst als Marjan Bárbar auf der Suche nach diesem Vogel, weiland auch Weidenlaubsänger genannt, spurlos verschwunden war, und zwar für immer, erschloss sich der Familie der tiefere Sinn dieser wunderlichen Wahl. Wahrscheinlich, so Mutter Mojcas Vermutung, hatte er sich in einen Zilpzalp verwandelt, weil er zeitlebens lieber ein Vogel als ein Mensch gewesen wäre und sei einfach davon geflattert, seinen gefiederten Freunden nach Afrika ins Winterquartier folgend. Und in der Tat konnte Marjan Bárbar, der slowenische Vogelversteher, des Weidenlaubsängers Gesang am besten von allen Gezwitschern nachahmen. Dessen zilp–zalp, zilp-zalp ging ihm derart perfekt über die Lippen, dass selbst erfahrene Weidenlaubsängerkenner nicht unterscheiden konnten, ob jetzt da ein Mensch zilpzalpte oder ein Vogel.
Tschusch aber war enttäuscht, schwer enttäuscht. Warum nur glaubte man ihm nicht? Hielt man ihn wirklich für einen notorischen Lügner? Niedergeschlagen ging er nach Hause. Er setzte sich in seine Küche und starrte teilnahmslos auf den Müll, der sich allenthalben stapelte: Berge schmutzigen Geschirrs, Halden leerer Flaschen, paketweise Abfall. Doch Tschusch wäre nicht Tschusch, hätte er nicht für alles eine Erklärung parat. Seit seine Geschirrspülmaschine kaputt war, kam er einfach nicht mit dem Abwasch nach. Und die Flaschen: Ohne Auto war es mühsam, sie artgerecht zu entsorgen. Außerdem konnte er, falls er Geld brauchte, die Pfandflaschen sammeln und zurückgeben. Die Pfandflaschen waren demnach so etwas wie seine letzte Reserve, also. Und der Hausmüll, ja: Immer, wenn er die stinkenden Plastiksäcke wegbringen wollte, war die Mülltonne im Hof voll. Immer.
Tschusch verspürte Hunger, eigentlich Hunger auf Sex, aber man konnte sich ja auch anders behelfen und etwas essen. Er schaute im Kühlschrank nach, doch außer in schimmliger Brühe schwimmenden Essiggurken, zwei völlig vertrockneten Scheiben undefinierbarer Wurst und einem angebrochenen Glas Senf mit Haltbarkeitsdatum 21. März 2005 war da nichts, nur ein Tetrapak Milch. Er wollte den zehn Jahre alten Senf schon wegwerfen, da erinnerte er sich, warum er ihn so lange aufgehoben hatte. 2005, das war doch das Jahr des Uhus gewesen, dessen wissenschaftlichen Namen er so mochte: bubu bubu . Und das Jahr, in dem sein Vater verschwunden war. Also. Tschusch stellte das Glas wieder zurück. Dann eben die Milch. Auch hier war das Verbrauchsdatum verstrichen, aber nur um eine Woche. Er öffnete den Deckel und roch hinein. Alles in Ordnung. Relativ zumindest. Nur, was machte man mit Milch, wenn man eigentlich Hunger hatte? Ihm fiel ein, dass irgendwo noch eine Packung Reis sein musste. Er wühlte sich durch die Schränke und fand schließlich, wonach er gesucht hatte, Langkornreis der Spitzenqualität. In seinem Kopf war wohl gespeichert, dass man zu Milchreis spezielles Korn brauchte, aber sicher war das bloß wieder ein Marketing Gag der Hersteller, damit man mehr von ihrem Zeugs kaufte.
Allerdings wusste er nicht, wie man Milchreis zubereitete. Den Reis schlichtweg in die Milch schütten, ab auf die Herdplatte und los gings? Sicherheitshalber rief er das brasilianische Feuerwerk Dolores del Rio an. Dolores war ihr Künstlername. Richtig hieß sie Chantal Pallaschke und stammte aus dem sächsischen Pirna, aber das musste ja nicht jeder wissen. Tschusch wusste das, weil er ihr Stammkunde war und auch das musste nicht jeder wissen. Rein aus Zufall war er vor zwei oder drei Jahren auf ihre Sexhotline gestoßen, in einer einsamen Nacht, als er einmal wieder von irgendwem verlassen worden war. Von welcher Dame, konnte nicht einmal er sich noch entsinnen, doch spielte das keine Rolle. Tschusch wurde ständig von irgendwem verlassen.
Damals wollte er nur getröstet werden und Dolores hatte sich seiner angenommen, schließlich war sie am selben Tag ebenfalls Opfer einer Trennung geworden und ahnte um die Nöte des verzweifelten Anrufers. Seitdem hatte sich eine Art fernmündlicher Freundschaft entwickelt, das ganz ohne das blöde Gestöhne am Telefon auskam. Man unterhielt sich lediglich und tauschte Probleme aus, von denen jeder der beiden genug auf Lager hatte. Keiner wusste vom jeweils anderen, wie er aussah und das war gut so. Weniger gut war die monatliche Rechnung, die ihm die Buchhaltung der Sexhotline zustellte, eine der Hauptursachen seiner monetären Engpässe.
Leider hatte auch Dolores keinen Schimmer, wie man Milchreis machte, also verfuhr Tschusch nach dem Motto learning by doing . Das kurze Zeit später fertige Produkt konnte man aufgrund seiner zementartigen Konsistenz zwar nicht essen, doch Tschusch war selten um einen Ausweg verlegen und schmierte die Risse an der Außenwand seines Balkons damit zu, fertig.
Jetzt konnte er in Ruhe zum Geschäftlichen übergehen. Er nahm seine Utensilien, ein kleines, aber feines Fernglas, das sein Vater zur Vogelbeobachtung genutzt hatte, seinen Notizblock zum Aufzeichnen seiner Erkenntnisse, einen Strohhut, um sein Gesicht zu verschatten und die Adresse, die Florentine Gasteiger ihm gegeben hatte. Gewürzmühlstraße, stand in krakeliger Schrift darauf, die Hausnummer so undeutlich, dass sie kaum zu entziffern war. Die Zahl konnte eine elf darstellen oder eine siebzehn. Siebenundsiebzig kam auch infrage, aber Tschusch kannte die Gewürzmühlstraße. Sie war eher kurz. Und sie war nicht allzu weit von seiner Haidhauser Wohnung entfernt, also fußläufig in etwa einer halben Stunde erreichbar. Froh, dass er etwas zu tun hatte, brach Tschusch auf.
Gemütlich schlenderte er durch die Straßen. Es war ein wunderbarer Frühlingsnachmittag, die Luft wie geschnitten Glas. München leuchtete im spätbarocken Licht der gnädigen bayerischen Sonne, ein Licht, das es angeblich nur in dieser Stadt gab, wie Künstler aller Zeiten und Sorten stets geschwärmt hatten. Tschusch war so stolz auf seine schöne Stadt, als hätte er, der Geborene Spielfelder, sie mit eigenen Händen erbaut.
Die Pleite mit Pommi Hamberger hatte er bereits vergessen, als er die mit dem Schmelzwasser der nahen Berge angereicherte, hurtig strömende Isar überquerte, den die Stadt sonst eher träge durchfließenden Fluss. Im Gegensatz zur Isar hatte Tschusch keine Eile. Auf der Maximiliansbrücke hielt er an und fütterte die Enten und Möwen mit Betongemisch, wie er die Reste des Milchreises bezeichnete, bis ihm, dem Vogelfreund, der Gedanke kam, dass sich das zementöse Gebräu nicht nur zum Kitten von Wandrissen eignete, sondern auch, um kleine Piep Matz Därme auf ewig zuzukleistern und steckte die Tüte mit Milchreisklumpen schuldbewusst weg, verfolgt von den anklagenden Schreien hungriger Möwen.
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