Er schaut sich mein Gesicht an, sein Blick wandert mit einem Mal meine Haut hinauf und hinab, als hätte er vergessen, warum er eigentlich vor mir steht, und ich kann beim besten Willen nicht erkennen, ob er von meiner Haut fasziniert ist, weil er sie für kostbar oder weil er sie für verabscheuungswürdig hält.
Für die Dauer eines Wimpernschlages stehen wir beide da wie versteinert. Dann wendet sich Mortimer ab. War wohl doch eher Abscheu, denke ich, was auch sonst. Seite an Seite gehen wir schweigend die Runde um den Teich. Sterne spiegeln sich in seiner Oberfläche, bewegt durch die Kreise, die das von der Pumpe ausgestoßene Wasser beim Auftreffen auf die Oberfläche zieht.
Wieder spüre ich die Magie, die vom Wasser ausgeht. Durch die Sinneseindrücke, die die Szenerie vor mir auf mich macht, habe ich wieder das Gefühl, voll und ganz Teil eines Systems zu sein, der Nahordnung der Moleküle nämlich. Der Anziehung und Abstoßung der Teilchen untereinander und dem Bestreben des Wassers, in jedem Zustand die kleinste mögliche Oberfläche im Verhältnis zum jeweiligen Volumen zu haben. Für die Sekunden, in denen Mortimers ruhige, sonore Stimme mich nicht zwingt, verbalisiert, fokussiert und reflektiert zu sein, verwandelt sich meine Gedankenwelt in ein Elektronenmikroskop: Ich habe den Eindruck, durch bloßes Hinschauen das Wesen des Wassers erkennen zu können. Ich meine, sicher wäre ich eine schlechte Chemikerin, würde ich nicht auch die physikalischen Grundlagen beherrschen, um das Verhalten von Wasser zu durchschauen. Aber in solchen Momenten ist es, als würde ich eine Art schwere Rüstung ablegen, eine Hülle, die mich immer umgibt, mich schwerfällig macht, und übrig bleibt dann nur die Anmut der Erkenntnis.
Als wir den Teich zur Hälfte umrundet haben, entdecke ich in den dichten Gräsern am Rand des Gewässers eine kleine Gruppe Leuchtkäfer. Es ist wirklich schön hier. Das hatte ich ganz vergessen.
Mortimer schaut mich erwartungsvoll von der Seite an.
„Wozu müssen wir das besprechen?“, frage ich dann. Meine Stimme ist belegt. Ich möchte nichts erzählen müssen.
„Wenn es nur in deinem Kopf bleibt, wirst du niemals damit abschließen können. Worte für das zu finden, was du erlebt hast, gibt ihm eine Dimension, und vielleicht folgen darauf Erkenntnisse“, antwortet Mortimer ruhig.
„Oder es gibt ihm Macht“, entgegne ich. „Weißt du, Worte sind die mächtigste Waffe, die ich habe. Sie für Erinnerungen zu verwenden, die mich schon durch ihre bloße Existenz schmerzen, wäre, als würde ich eine offene Wunde mit Feuer desinfizieren: Es bleibt verbranntes Fleisch zurück, übelriechend, schwarz, schmerzend und sekundär gefährlich.“
Jetzt, zum ersten Mal seit unserer Begrüßung auf der Deutzer Brücke, nehme ich bewusst wahr, wie Mortimer mich berührt. Er legt seinen Arm um meine Schultern. Wieder rieche ich sein Parfum, und fast scheint es mir, als könnte ich sein Herz schlagen hören. Seine Berührung verspricht so viel Nähe – ein Zustand, den ich absolut nicht mehr gewöhnt bin, und ich komme nicht umhin, so etwas wie Geborgenheit zu fühlen. Diese Geste erscheint mir so ausgesprochen ungewohnt. Wie kann es nur sein, dass mich das alles derart durcheinanderbringt? Sicher, die Faktenlage ist nichts, was man objektiv in irgendeiner Hinsicht als normal bezeichnen würde. Aber warum kann ich dann nicht einfach gehen? Was hält mich auf?
Meine Welt steht Kopf, und nur durch seinen Blick, nahe an meiner Schläfe, seinen leisen Atem an meinem Ohr und seine kalte Hand auf meiner Schulter überzeugt Mortimer mich, einige Worte zusammenzusuchen, meine Gedanken zu ordnen und zu erzählen.
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