Es fühlt sich falsch an, dass er mir nicht widerspricht. Gut, meldet sich die Stimme in meinem Kopf wieder, es ist doch gleichgültig, was er tut. Wenn er etwas sagt, ist es falsch, und wenn er nichts sagt, dann offenbar auch.
Es ist nicht falsch, weil ich mit meiner saloppen Aussage eine These aufgestellt hätte, auf die ich Widerworte für die angemessene Reaktion halte, sondern, weil ich selbst einen tiefen inneren Widerstand dagegen verspüre, mit Mortimer einer Meinung zu sein. Als wäre es ein Verbrechen, nicht am Gesetz, eher am Menschen. An der Natur. In meinem Kopf entbrennt ein ungezähmter Kampf zwischen meinem stolzen Auftreten, das mich zu dieser Antwort verleitet hat, und meinem Sachverstand, der mich daran erinnert, dass in jeder Aussage zumindest ein klein wenig Wahrheit steckt, und dass ich mich dann nicht gekränkt zu fühlen habe, wenn jemand das ernst nimmt.
„Also, ich würde ja sagen, dass deine Vernunft da vollkommen richtig liegt“, kommentiert Mortimer meinen Gedankengang.
Ich schaue ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Natürlich sagst du das. Sie gibt dir ja auch Recht. Und abgesehen davon ist die Tatsache, dass es meine Vernunft ist, die in meinem Kopf sitzt, nicht unbedingt ein Indiz für ihre eigene Glaubwürdigkeit, im Gegenteil: Mit jeder Aussage, die sie trifft, untergräbt sie sich selbst. Sie ist immer noch gefärbt von meiner Wahrnehmung, meiner Bewertung.“ Überrascht stelle ich fest, dass es mich jetzt gar nicht mehr so sehr stört, und es mir vor allem schon nicht mehr sonderbar erscheint, dass Mortimer Teil meiner Gedankenwelt ist.
Gern würde ich sagen, den Rest der Fahrt über wäre nichts geschehen, über das zu berichten es sich lohnt. Aber nein.
Nach der Haltestelle Barbarossaplatz fahren wir nicht mehr unterirdisch, sondern mittig entlang der breiten Luxemburger Straße. Die Bahngleise sind gesäumt von Straßenlaternen und Bäumen. Das kalte Licht, das durch ihre Blätter fällt, zeichnet dynamische, bläuliche Muster auf Mortimers Stirn und seine Haare. Seine Augenbrauen sind wie eine Steilküste: Von dem hohen, klar definierten Schädel mit dem zurückweichenden Haaransatz ziehen sie eine scharfe Grenze zu den tiefliegenden grauen Augen, die das bläuliche Licht der Straßenlaternen immer wieder im Schatten ihrer Höhlen aufleuchten lässt. Und darunter liegen feine Züge, Millionen Details, die mir so wahnsinnig vertraut sind. Die markante Nase, die schmalen, scheinbar durch ihre Fältchen ineinander verkanteten Lippen. Wenn er spricht, fällt mir immer wieder auf, dass seine Eckzähne ein wenig vorstehen, was ihm einen aparten, unperfekten Eindruck verleiht, einen Widerspruch zu allem, wofür er zu stehen scheint. Sein ganzes Gesicht ist scharf umrissen, fein gezeichnet und doch irgendwie hart wie ein Diamant, aber dabei scheint es mir so vertraut und so stark, auf eine verkappte Weise attraktiv, dass ich mit jeder Sekunde mehr zwischen Furcht und Sympathie hin- und hergerissen werde.
Seine Züge sind für mich ein Versprechen von etwas, das sich wohl am ehesten beschreiben lässt als das Gegenteil von Einsamkeit, und wann immer ich ihn verstohlen anschaue, habe ich das Gefühl, mich in all den Kleinigkeiten zu verlieren. Sein Gesicht, seine ganze Erscheinung übt eine kaum erfassbare Macht und Faszination auf mich aus. Und ich weiß, jetzt, wo er entspannt und so fröhlich ist, wie er mit seiner ganzen Art eben sein kann, bedeutet diese Macht große Gefahr für mich. Die Versuchung, ihm nachzugeben, auf ihn zu hören, ohne seine Absichten zu kennen, steigt mit jedem freundlichen Wort, das er an mich richtet. Zum Glück, wirft die kleine, sarkastische Stimme in meinem Kopf ein, sind das nicht allzu viele.
Es wäre so einfach, meldet sich dann eine leise Sehnsucht in mir zu Wort, so einfach einmal nicht abwägen und entscheiden zu müssen, den Weg nicht allein zu gehen. Mit einer subtilen, hoffentlich von Mortimer nicht bewusst wahrnehmbaren Handbewegung wische ich die Bitte fort. Humbug, denke ich, ich kann mein Leben keinem Fremden in die Hand geben. Und vor allem nicht jemandem, der so unberechenbar ist, dem ich nicht vertrauen kann, obwohl etwas in mir beteuert, dass das absolut notwendig ist. Und da ist sie wieder, die Einsamkeit. Der Zwilling des Schmerzes.
Noch hat Mortimer jedoch außer seinem Einschüchterungsversuch auf der Cäcilienstraße nichts getan, was meine Furcht vor ihm gerechtfertigt hätte. Nicht, nachdem ich ganz intuitiv weiß, dass er die Wahrheit sagte, als er meinte, wir würden uns kennen. Ich kann es nicht begründen, nicht erklären und schwanke immer noch zwischen den Extremen, die er in mir auslöst, aber er kann für mich definitiv kein völliger Unbekannter sein.
An der Haltestelle Klettenbergpark steigen wir schließlich aus. Der Geruch von Marihuana steigt mir in die Nase. So lange schon wohne ich nicht mehr in diesem Stadtteil, und immer noch erscheint es mir, als würde jeden Abend jemand zum Rauchen in den kleinen Park an der Ecke Luxemburger Straße- Geißbergstraße gehen. Jemand, den ich noch nie gesehen, aber zwei Jahre lang mit beunruhigender Regelmäßigkeit gerochen habe.
„Das weckt Erinnerungen, nicht wahr?“, Mortimers Stimme ist wie das Schnurren eines zufriedenen Katers, der sich soeben auf der Brust seines Menschen hingelegt hat, sodass dieser sich nicht mehr rühren kann.
„Woher weißt du all das über mich? Die meisten Menschen, die heute in meinem Leben eine Rolle spielen, wissen nicht, dass ich hier gewohnt habe – und vor allem nicht, was hier passiert ist“, entgegne ich und denke im selben Moment: Willst du die Antwort auf diese Frage wirklich hören?
„Woher ich das weiß?“, Mortimer verzieht wieder das Gesicht. Ein kurzes Lachen entfährt ihm. „Ich war dabei.“
Wir biegen in den Eingang des Parks ein. Entfernt höre ich das Plätschern der Teichpumpe, die den Mittelpunkt des Teiches markiert und damit den Mittelpunkt des gesamten Parkstücks.
Jetzt strömen Millionen Bilder auf mich ein, Gesprächsfetzen, Gesichter. Mortimers ist nicht dabei. Einen Moment lang halte ich inne, schließe die Augen und spüre, wie die Anspannung von vorhin sich wieder in mir ausbreitet. All die Erinnerungen sind so laut, so erschütternd, als würden sie mich aus nächster Nähe anbrüllen.
Mortimer ist gleichzeitig mit mir stehen geblieben. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich seine langen Finger sanft auf meinem rechten Unterarm ruhen. Wieder habe ich nicht gespürt, wann und wie er mich berührt hat. Aber jetzt ist sie da, die Hand. Meine eigenen Hände habe ich vor meinem Bauch ineinander verknotet und presse sie mit aller Kraft zusammen. Ich habe die Schultern hochgezogen. Meine Knie zusammengepresst. Den Rücken gekrümmt. Noch einmal schlage ich die Augen nieder, dann versuche ich mit meinem Atem auch die ganze Spannung aus meinem Körper weichen zu lassen. Es gelingt mir nicht zur Gänze.
Als ich die Hände sinken lasse, zieht auch Mortimer seine Hand zurück. „Gehen wir chronologisch oder alphabetisch vor?“, fragt er dann. Angesichts dieser Unerhörtheit schnappe ich nach Luft und möchte ihm etwas entgegenschleudern, doch mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung steht Mortimer wieder vor mir und legt mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. Beinahe löst das noch größere Empörung in mir aus, aber ich kann mich nicht wehren. Ist das der Vierte im Bunde, der Zorn? Ein Automatismus nimmt in meinem Kopf seinen Anfang, und ohne genau zu wissen wie, lasse ich meinen Ärger schnell von meiner geistigen Bildfläche verschwinden, wissend, dass er mich in meiner Situation unter keinen Umständen weiterbrächte.
Wieder ist Mortimer mir so nahe, dass sich bei jedem seiner Atemzüge die Härchen in meinem Nacken aufstellen. Meine körperlichen, nicht steuerbaren Reaktionen sind fast synchron mit jeder seiner Bewegungen.
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