Eine Zeit lange beobachtete sie das Geschehen, bis erneut die Türe zu ihren Zimmer aufging und ein Wärter Maria bat, ihm zu folgen.
Ein wenig verwirrt über das erneute Interesse an ihr ging sie ihm brav hinterher.
Sie stoppten bei Dr. Schuh. Maria seufzte, erneut musste sie sich seinen seltsamen Fragen stellen.
Der Psychiater erwartete sie bereits. Er bot ihr einen Platz auf dem Sofa an und leerte Limonade in zwei Gläser. Was Maria jedoch nicht sehen konnte, war, dass er in ihrem Glas ein paar Tropfen eines kleinen Fläschchens hinzufügte.
Dr. Schuh stellte ihr das Glas Limonade hin und er selbst trank aus dem anderen Glas, sodass Maria unbewusst auch das ihre nahm und daraus trank. Nachdem er mit seinem Notizblock in der Hand gegenüber Platz nahm, begann das Gespräch.
„ Wie geht es Ihnen heute?“
„ Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.“
„ Hat Ihnen das Frühstück geschmeckt?“
„ Das am Zimmer ist besser.“
„ Ich möchte heute mit Ihnen darüber reden, was in der Nacht geschehen ist, in der Sie gefunden wurden.“
„ Das hatten wir doch schon.“
„ Ist Ihnen noch etwas dazu eingefallen?“
„ Nein.“
„ Was halten Sie von Markus“?
„ Erzählt man Ihnen eigentlich auch, wie oft die Leute hier zur Toilette gehen?“
Dr. Schuh lächelte.
„ Ja, wenn es für eine Diagnose wichtig wäre, bekäme ich auch diese Information.
Also, was halten Sie von Markus?“
„ Sie sind hartnäckig. Ich finde ihn nett, aber er tut mir leid.“
„ Warum?“
„ Es muss doch anstrengend sein, immer jemand anderer zu sein. So viele Personen, von denen er sich das Erlebte merken muss. Ich wäre schon froh, wenn ich mich an ein Leben erinnern könnte. Andererseits, da mein jetziges erst im Krankenhaus beginnt, wäre ich wahrscheinlich überfordert mit den vielen Geschichten meiner Vergangenheit.“
„ Mit welcher Geschichte genau wären Sie überfordert?“
„ Keine Ahnung. Ich weiß ja keine mehr.“
Maria spürte ihren trockenen Mund und nahm einen Schluck Limonade. Gleichzeitig wurde sie immer müder.
„ Sind Sie müde?“
„ Ja, ein wenig.“
„ Legen Sie sich doch hin und entspannen Sie sich ein bisschen.“
„ Nein danke. … Oder vielleicht doch kurz.“
Dr. Schuh wartete noch einen Moment ab. Nachdem Marias Augen schwer wurden, bat er sie diese zu schließen.
„ Liegen Sie gut?“
„ Ja.“
„ Erzählen Sie mir, was Sie sehen.“
„ Es ist finster.“
„ Schauen Sie in sich hinein.“
„ Ein Kind spielt auf einer Wiese.“
„ Erzählen Sie mir mehr. Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“
„ Es ist ein Mädchen. Wahrscheinlich so vier Jahre alt.
Sie hat eine Puppe in der Hand und spielt mit ihr.“
„ Wie schaut der Ort aus, an dem sie sich aufhält?“
„ Sie sitzt auf einem Stück Wiese. Rundherum sollte auch Gras sein, aber es schaut trockene Erde hindurch.
Da sind ein großer Baum und dahinter ein altes Haus in schlechtem Zustand.
Eine Frau steht im Eingang und beobachtet das Mädchen. Vom hausinneren ertönt eine laute Männerstimme. Die Frau zuckt zusammen und läuft hinein.
Die Stimmen werden lauter und das Mädchen schaut ängstlich. Vorsichtig nähert sie sich der Haustüre und beobachtet, wie der Mann die Frau schlägt.“
Maria begann zu zittern. Eine Träne lief ihr die Wange hinunter.
„ Warum schlägt er die Frau?“
„ Es gibt keinen Grund. Er ist wütend.“
„ Auf wen ist er wütend?“
„ Auf alles. Auf seine Frau und seine Tochter. Einfach so, weil es sie gibt.“
„ Das Mädchen ist also seine Tochter?“
„ Ja.“
„ Schlägt er auch sie?“
„ Ja.“
„ Was denkt sich das Mädchen in so einer Situation?“
„ Sie hofft, bald größer zu sein. Wenn sie größer ist und über mehr Kraft verfügt, will sie ihn töten.“
„ Kennen sie das Mädchen?“
„ Nein.“
„ Aber sie wissen, was sie denkt.“
„ Oh ja.“
„ Warum kennen sie ihre Gedanken?
„ Sie wird ihn töten und Freude dabei empfinden.“
„ Wie wird sie ihm das Leben nehmen?“
„ Sie weiß es noch nicht, aber sie wird ihn langsam töten.“
„ Hat das Mädchen noch Geschwister?“
„ Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“
Dr. Schuh bemerkte, dass die Droge bereits ihre Wirkung verlor. Er wünschte sich, sie hätte mehr davon getrunken, aber vielleicht beim nächsten Mal.
„ Möchten Sie sich wieder aufsetzen?“
„ Ja, ich glaube es geht mir wieder besser. Was wollten Sie mich fragen?“
„ Ach, ich glaube, wir machen für heute Schluss. Ruhen Sie sich aus und wir sehen uns morgen wieder.“
„ Das war’s? Für das haben Sie mich hierhergeholt?“
Dr. Schuh stand auf, nahm seinen Notizblock und verabschiedete sich hinter seinen Schreibtisch. Der Wärter kam hinein und führte Maria in ihr Zimmer zurück.
Etwas benommen nahm sie auf ihrem Sessel im Raum Platz. Was war mit ihr? Maria fühlte sich durcheinander, ein Schleier hing zwischen den Gegenständen und ihren Augen. Brauchte sie eine Brille?
Maria war zu benommen, um zu wissen, was gerade passiert war. Sie befand sich in einer Art Kurznarkose, so wie bei einer Gastroskopie, bei der man im Nachhinein nicht mehr genau wusste, was geschehen war. Eine Narkose, die einem ein Zeitloch ins Gedächtnis brannte. Alles was man in diesem Zeitabschnitt gesagt hat, taucht lediglich in einem Nebel auf.
Dr. Schuh verwendete oft diese Tropfen. Die Patienten erzählten aus ihrem Unterbewusstsein, ohne diese mit bewussten Gedanken zu verfälschen. Natürlich gab es auch einen Haken dabei. Die Erzählungen waren oft wie Träume, die lediglich aus Gefühlen zusammenstellt wurden und nicht immer ganz der Realität entsprachen. Dennoch waren es reale Emotionen, die aus der Tiefe kamen. So entstanden dann Geschichten, die einen Mix aus Gefühlen, Erinnerungen, oder einer bestimmten Sicht sein konnten. Um das gut zu bewerten und zuzuordnen, brauchte man viel Erfahrung und die dementsprechende Ausbildung, so wie Dr. Schuh beides hatte.
Je mehr solcher Sitzungen abgehalten wurden, desto besser konnte der Arzt alles zusammenfügen und herausfiltern. Übrig blieb die Erinnerung.
Maria schaute wie weit der Gartenarbeiter mit seinem Loch im Park war. Er buddelte noch immer. Eine Weile beobachtete sie, wie die Schaufel des Baggers die Erde aus der Grube hob und sie in einen Container daneben hineinfallen ließ. Zunehmend kam auch wieder ihre Sehkraft zurück. Allerdings huschten stetig Gedanken über ein trauriges Mädchen in ihrem Kopf herum. Warum dachte sie andauernd an dieses fremde Mädchen? Ein Kind, welches sie nicht beschreiben konnte, sondern immer nur ihr verbittertes Gesicht vor Augen hatte. Maria sah, nein, eigentlich fühlte sie den Schmerz dieses Mädchens. Letztendlich begann sie selbst zu weinen und wusste nicht warum.
Der Gartenarbeiter beendete seine Tätigkeit und schloss den Bagger ab. Die Sonne war kurz davor hinterm Horizont zu verschwinden. Ein Wärter stellte das Abendessen auf den Tisch.
Maria hatte keinen Hunger, irgendetwas schnürte ihr den Magen zu. Sie wusste aber, wenn sie das Essen unberührt zurückschickte, erneut Gesprächsthemen über ihren Zustand bei den Ärzten entstanden, also stocherte sie einmal ein wenig darin herum.
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