Sie hoffte nicht schon wieder in den Aufenthaltsraum zu müssen.
Man brachte sie in einen Behandlungsraum. Dort wartete bereits ein bärtiger Mann und bat ihr freundlich einen Sitzplatz auf einem Sofa an.
Er stellte sich als Dr. Schuh vor. Es war Marias Psychiater, den sie ab jetzt öfter zu Gesicht bekommen würde. Zuerst fragte er nach ihrem Befinden, doch was sollte Maria da antworten. Wie fühlte man sich in einer psychiatrischen Einrichtung, aus der man nicht einfach hinausspazieren durfte?
Dann fragte er, ob sie sich an irgendetwas erinnern konnte. Nein, konnte sie nicht. Auch die Frage, was sie glaubte, weshalb sie sich in dieser Einrichtung befand, konnte Maria nicht beantworten.
Der Psychiater lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute Maria durchdringend an. Sie hasste es, wenn sie jemand so anschaute. Nach einer kurzen Stille im Raum begannen seine eigentlichen Fragen:
„ Was ist das Letzte an das Sie sich erinnern?“
„ Ich öffnete meine Augen und lag im Krankenhaus. Dort sagte man mir, dass ich verletzt liegend am Waldrand neben Zugschienen gefunden wurde.“
„ Haben sie eine Ahnung wie sie dorthin gekommen sind?“
„ Nein.“
„ Warum waren sie verletzt?“
„ Ich weiß es nicht.“
Dr. Schuh schaute schon wieder durchdringend in Marias Richtung, was sie sehr nervös machte.
Sein Bierbauch drückte gegen die Hemdknöpfe, die bedrohlich einem Geschoss ähnelten, die kurz davor waren, Maria zu treffen. Der Bart des Arztes war schon ein wenig ergraut, aber ansonsten sah er noch nicht alt aus. Eigentlich machte er einen gemütlichen Eindruck. Vielleicht war er ja auch sympathisch? Maria wollte es einmal auf sie zukommen lassen. Aber wenn er nicht immer so durchdringend schauen würde …
„ Wie heißen Sie?“
„ Im Krankenhaus meinte man, ich heiße Maria.“
„ Und was glauben Sie?“
„ Keine Ahnung.“
„ Fühlt sich der Name Maria für Sie in Ordnung an?“
„ Ich glaube schon.“
„ Die Sanitäter erzählten. Sie hätten im Rettungswagen gesagt, Maria zu heißen.“
„ Kann sein. Ich weiß nichts mehr von der Zeit im Rettungswagen.“
„ Nehmen Sie regelmäßig ihre Medikamente?“
„ Ich hab ja keine andere Wahl.“
„ Möchten Sie sich wieder an Vergangenes erinnern?“
„ Natürlich. Glauben Sie, es macht Spaß nicht zu wissen wer Sie sind, oder wie Sie bisher gelebt haben?“
„ Nein, ich glaube nicht, dass es Spaß macht.
Sie müssen regelmäßig ihre Tabletten nehmen, damit wir mit der richtigen Behandlung beginnen können. Gestern wurden in ihrem Zimmer einige gefunden, die Sie wieder ausgespuckt haben. Das ist nicht förderlich.“
„ Wie genau wirken die Medikamente und was bedeutet die richtige Behandlung?“
„ Die Medikamente wirken beruhigend und geben den Weg frei, damit ihr Unterbewusstsein Informationen bereitstellt, die sie zur Erinnerung brauchen.“
„ Und die richtige Behandlung? Was ist das?“
„ Wenn sie so weit sind und die Erinnerung nicht von alleine zutage kommt, arbeiten wir mit Hypnose.“
„ Warum warten? Wir könnten doch gleich damit beginnen.“
„ Nein. Sie sind noch nicht soweit.“
„ Woher wollen Sie das wissen?“
„ Vertrauen Sie mir.“
Maria stieß unbeabsichtigt ein lautes Zischen von sich. Dr. Schuh schaute sie, ohne die Miene zu verziehen, an. Er nahm sich einen Schreibblock und einen Stift zur Hand.
„ Sie heißen also Maria?“
„ Hab ich doch schon gesagt.“
„ Also wissen Sie, dass Sie Maria heißen?“
„ Wirklich? Das hatten wir doch schon. Man sagte mir, ich hieße so.“
„ Sind Sie aufgeregt?“
„ Natürlich. Sie stellen mir die gleichen Fragen wie zuvor.“
„ Was regt Sie daran auf? Wir haben keinen Zeitdruck.“
„ Aber die Zeit könnte sinnvoller verwendet werden. Wie soll ich mich an was erinnern, wenn Sie mir immer die gleichen Fragen stellen?“
„ Sehen Sie, genau das ist das Problem. Sie vertrauen mir nicht und deswegen können wir auch noch nicht mit der Hypnose beginnen.“
„ Ok, ok. Ich vertraue Ihnen. Können wir jetzt beginnen?“
Dr., Schuh lächelte kurz. Er stand auf und holte einen Pfleger, der Maria wieder auf ihr Zimmer bringen sollte.
„ Wir sehen uns morgen wieder. Nehmen Sie Ihre Tabletten.“
„ Das war’s?“
„ Ja, für heute schon.“
Maria wusste nicht recht, was sie mit diesem Gespräch anfangen sollte. Der Psychiater machte sich mit seiner Fragetechnik nicht sonderlich beliebt bei ihr. Eigentlich war er Maria nach diesem Gespräch sogar sehr unsympathisch.
Erneut schaute sie aus dem Fenster.
Die Tage waren, wenn man nichts zu tun hatte, sehr lange. Immerfort kreisten Gedanken im Kopf herum, die sich zu seltsamen Geschichten formten. Es wurde zunehmend schwieriger für Maria zu erkennen, ob es nur Hirngespinste waren, oder sich ein Stück Erinnerung darin befand.
Es war nun eine Woche vergangen, und die Gespräche mit dem Arzt waren noch immer enttäuschende Erlebnisse. Jeden Tag musste sie nun diesen Dr. Schuh sehen. Warum stellte er ihr ständig dieselben Fragen? Sollte nicht die Polizei recherchieren wer sie war? Vermisste sie überhaupt niemand?
Das Grundstück der Anstalt schien groß zu sein. Es war mit einem hohen Zaun abgegrenzt und bestand vorwiegend aus einer großen Wiesenfläche. Vereinzelt ragten hohe Bäume in den Himmel, darunter befand sich jeweils eine Bank zum Verweilen. Einige der Patienten spazierten schmale Wege entlang, die sich durch das satte Grün schlängelten. Maria konnte sie vom Fenster aus beobachten. Wahrscheinlich würde dies in nächster Zeit ihre einzige Beschäftigung sein. Andere Patienten beobachten.
Das Abendessen wurde gebracht. Maria war froh nicht wieder in den Speisesaal zu müssen. Sie fürchtete sich ein wenig vor den anderen. Obwohl man ihr versicherte, dass niemand von ihnen gewalttätig war, konnte sie deren Verhalten nur schwer einordnen. Es war neu sich mit so vielen verhaltensauffälligen Personen in einem Raum zu befinden. Zudem hatte sie das Gefühl, nicht in diese Gruppe zu passen.
Das Abendessen war wie immer geschmacklos. Manchmal dachte Maria, der Hausküche waren die Gewürze ausgegangen. Jede der Speisen schmeckte gleich fade. Noch bevor sie einen Teil des Essens hinuntergewürgt hatte, kam ein Pfleger mit den Tabletten. Sie musste diese vor dem Personal einnehmen und diesmal blieb der Pfleger auch noch eine Weile, um zu sehen, ob die Medizin auch wirklich den Weg zum Magen fand. Anscheinend gab Dr. Schuh den Auftrag, intensiver darauf zu achten, weil sie schon des Öfteren welche wieder ausspuckte. Maria musste noch vor den strengen Augen des Mannes, nach Einnahme der Tabletten, einen Bissen vom Abendessen zu sich nehmen. Wütend riss Maria danach ihren Mund auf, um zu zeigen, dass sie alles hinuntergeschluckt hatte. In einen Gefängnis konnte es nicht strenger zugehen.
Als er wieder das Zimmer verließ, schob Maria das Essen zur Seite.
Warum behandelte man sie derart würdelos?
Mit Tränen in den Augen schaute sie erneut aus dem Fenster. Die Patienten waren wieder alle ins Haus zurückgekehrt. Eine Frau, die zum Personal gehörte, leerte die Mistkübel neben den Sitzbänken. Mit Handschuhen bewaffnet griff sie in die Behälter und warf den Inhalt in einen großen schwarzen Plastiksack.
Maria begann ein wenig zu schwanken. Die Tabletten begannen zu wirken und verursachten Schwindel. Besser sie legte sich ein wenig ins Bett. Gedanken konnte sie keinen mehr nachgehen, denn die Medikamente blockierten das Denken. Teilnahmslos lag sie da. Der Tag neigte sich dem Ende zu und obwohl sich Maria bereits in einen lethargischen Zustand befand, musste sie noch eine weitere Schlaftablette zu sich nehmen. Natürlich ebenfalls unter Beobachtung.
Читать дальше