Wolfrath Lübben konnte seinen Augen nicht trauen, denn seine Verabredung, die zehn Minuten zu spät das winzig kleine Bierlokal betrat, war genau das, was er sich, zumindest physisch, unter einer Traumfrau vorstellte: Blond, sehr langbeinig, dunkelgrüne Augen, große Oberweite, voller Mund und eine kleine, zierliche Nase. Doch wie sich im Laufe der ersten, schüchternen Unterhaltung herausstellte, hatte die Sache natürlich einen Haken. Juliane Gundermann, die sich, dem Himmel sei Dank, gleich selbst vorgestellt hatte, war die Tochter eines kleinen Beamten und einer nicht berufstätigen Hausfrau, sie selbst arbeitete als kaufmännische Angestellte in der Fabrik. Kleinbürger, tiefste Provinz, ein Mädchen aus sehr bescheidenen Verhältnissen, bildhübsch, adrett, ja sogar chic, aber nur mit Volksschulabschluss und wohl auch bettelarm. Als ob all dies noch nicht genug gewesen wäre, war sie auch noch vier Jahre älter als er selbst. Niemals würden seine Eltern eine solche Partie akzeptieren. Doch es war schon zu spät. Wolfrath Lübben hatte sich bereits über beide Ohren verliebt. Und auch Juliane Gundermann war schnell Feuer und Flamme für den höflichen, hochgewachsenen, blonden Mann mit den blaugrauen Augen, der – für Ludwigshausner Verhältnisse – so ungewöhnlich schön sprach. Noch am selben Abend landeten die beiden in Wolfrath Lübbens Dachlaube, um dort das zu Ende zu bringen, was bereits auf dem Maskenball seinen Anfang genommen hatte. Wolfrath Lübben verschwieg seinen Eltern zunächst die Freundin aus der Provinz. Er liebte seine Juliane sehr, doch insgeheim plante er, die Geschichte nach dem Abschluss seiner Ausbildung im Niemandsland zu beenden. Bis zu jenem Tag im Dezember 1964, als Juliane Lübben ihm unter Tränen mitteilte, dass sie schwanger sei. Es bestehe kein Zweifel, sie habe sich bereits allen Tests unterzogen. Wolfrath Lübben gefror das Blut in den Adern, Hunderte von Bildern schossen im auf einmal durch den Kopf. Zunächst dachte er daran, seinen Freund Johannes Schmal um Beihilfe zu einer Abtreibung zu bitten, eine Idee, die er noch im gleichen Augenblick wieder verwarf. Dann kam ihm der absurde Gedanke einer Flucht zur See in den Sinn, einfach nie wieder an Land gehen, zumindest nicht in Deutschland. Doch schließlich setzte sich sein kühler protestantischer Geist durch. Er würde sich seiner Verantwortung stellen, gleichwohl wissend, dass sich sein Leben von nun an radikal ändern sollte. Kurz vor Weihnachten 1964 reisten Wolfrath Lübben und Juliane Gundermann nach Hamburg. Wolfrath Lübben hatte zuvor, in einem langen Brief, seinen Eltern gebeichtet. Das anschließende Telefonat mit seinem Stiefvater würde er zeit seines Lebens nie vergessen.
Der Empfang in der Poppenbütteler Villa der Blaus war ebenso eiskalt wie das Hamburger Dezember-Wetter. Bewahrte Karl Hubertus Blau noch seine typisch hanseatische Contenance, so konnte Hildegard Blau ihre Abneigung der zukünftigen Schwiegertochter gegenüber kaum verbergen. Für sie war der Fall klar: Diese unverschämte Person hatte sich ihren Sohn geangelt, sich bewusst in andere Umstände versetzen lassen, um ihn nun nach Strich und Faden zu schröpfen. Juliane Gundermann freilich wusste gar nicht, wie ihr geschah, denn ihr Wolfrath hatte stets nur vage von seiner Hamburger Heimat gesprochen und mit keiner Silbe erwähnt, dass seine Eltern vermögend waren. Sie wäre auch niemals auf die Idee gekommen, ihn nach so etwas zu fragen. Im April 1965 heirateten Wolfrath Lübben und Juliane Gundermann in Hamburg, protestantisch, Juliane Gundermann war bereits im dritten Monat schwanger. Gegen den ausdrücklichen Willen von Wolfrath Lübbens Eltern beschloss das junge Ehepaar, zunächst in Ludwigshausen zu leben, denn Juliane Lübben war gerade befördert worden – zur jüngsten Personalleiterin der Region. Wolfrath Lübben hingegen hatte seine Ausbildung abgebrochen, woraufhin er lediglich eine Anstellung als Produktionsleiter einer kleinen Schuhfabrik in einem Dorf im Grenzland zwischen Ludwigshausen und Frankreich fand. Im September 1965 wurde der erste und einzige Sohn von Wolfrath und Juliane Lübben, Jan Lübben, in Ludwigshausen geboren.
***
Das Leben der kleinen Familie Lübben, die nun im Feiner-Leute-Viertel Römerschanze, am Truffaud-Ring 255, residierte, schien nur nach außen hin perfekt. Im Frühjahr 1974 waren schon rund zehneinhalb Jahre vergangen, seit Wolfrath Lübben am stets gottverlassen wirkenden Ludwigshausner Bahnhof angelangt war. Sein Sohn Jan, den er über alles liebte und der, seinerseits, auf ungewöhnliche Art und Weise an seinem Vater hing, würde dieses Jahr schon seinen zehnten Geburtstag feiern. Doch in der Ehe zwischen Wolfrath und Juliane Lübben, die von Beginn an unter keinem guten Stern stand, kriselte es bereits seit Jahren. Karl Hubertus und Hildegard Blau hatten ihre Schwiegertochter nie akzeptiert und ließen Juliane Lübben dies bei jedem Zusammentreffen deutlich spüren. So waren insbesondere die gemeinsamen Familienurlaube in der Blauschen Ferienresidenz Las Palmeras auf Teneriffa für Juliane Lübben ein Graus. Einerseits war sie von dem Luxus des riesigen Anwesens mit Atlantikblick und Dienstboten beeindruckt; auch machte es sie glücklich, ihren Mann und ihren Sohn so sehr zufrieden zu sehen, die sich in Las Palmeras stets pudelwohl fühlten. Andererseits fühlte sie sich von der typisch hamburgischen, blasiert-herablassenden Art ihrer Schwiegereltern erniedrigt, die keine Gelegenheit ausließen, ihr, wenn auch subtil, zu zeigen, dass sie ein Schmuddelkind war, nicht gut genug für ihren Sohn, nicht gut genug als Mutter für ihren Enkel Jan. So wurde letzterem, während der Aufenthalte in Las Palmeras, stets ein Kindermädchen, Fabia, zugewiesen, das ihn rund um die Uhr versorgte, was für Juliane Lübben natürlich nur eine weitere Schmach bedeutete. Doch diese rächte sich auf ihre Weise, indem sie sich nämlich strikt weigerte, dem stetigen Drängen der Schwiegereltern nachzugeben, die Familie möge doch endlich Ludwigshausen verlassen, um nach Hamburg zu ziehen, damit dort, so der offizielle Tenor, Wolfrath Lübben langsam aber sicher die Firmengeschäfte übernehmen könne. Juliane Lübben dachte indes überhaupt nicht daran, ihr geliebtes Ludwigshausen aufzugeben, wo sie sich mit viel Schweiß und Ellenbogen eine mehr als respektable Position erkämpft hatte. Was wollten denn die versnobten Herrschaften aus Hamburg, verdiente sie zwischenzeitlich nicht sogar das Dreifache wie ihr Wolfrath, hatte sie diesem nicht sogar zu einem anständigen Arbeitsplatz verholfen? Ihre in der Heimat gewonnene Machtposition ließ Juliane Lübben auch ihren Mann zunehmend spüren, demgegenüber sie sich im Laufe der Zeit einen etwas herrischen, stets unterschwellig autoritären Ton angewöhnt hatte. Wolfrath Lübben war hingegen von Natur aus eher ein friedliebender, gutmütiger Mensch, der sich aus der Situation rettete, indem er immer mehr Zeit im Kreise seiner alten Freunde verbrachte. So fuhr er an den Wochenenden mit Rudi Fleischmann Rallyes, ging mit Johannes Schmal zum Angeln auf dessen Wochenendgrundstück Seefeld, wo die beiden häufig mehrere Tage verbrachten, oder widmete sich seinem Ehrenamt als Vergnügungswart im lokalen Automobilclub. Sein Freund Johannes Schmal hatte unterdessen in der Ludwigshausner Innenstadt eine gutgehende internistische Praxis eröffnet, die auch schnell aufgrund ihrer hübschen Arzthelferinnen bekannt wurde. Die Ludwigshausner Tratschgesellschaft munkelte bereits, dass mit den schönen Gehilfinnen auf dem Seefeld recht unkatholische Orgien gefeiert würden, ein Gerücht, das natürlich auch ins Chefbüro der Juliane Lübben vordrang. Tatsache war, dass sich Dr. Johannes Schmal mit seinen recht häufig wechselnden Assistentinnen zuweilen in seinem Sprechzimmer vergnügte; die Orgien auf dem Seefeld waren jedoch frei erfunden. Mehr noch, laut einem ungeschriebenen Kodex, der zwischen den Busenfreunden herrschte, war das Seefeld-Anwesen streng frauenfreie Zone und galt als geschütztes Reservat für maskuline Vergnügungen wie Angeln, Bogen schießen, Segeln, Modellflugzeuge bauen, Grillen und Saufen. Dennoch sorgte das böse Gerücht für einen furchtbaren Ehestreit im Hause Lübben, der, paradoxerweise, dazu führte, dass Wolfrath Lübben gleich für ganze vierzehn Tage auf dem Seefeld einzog, wo es eine komfortable Blockhütte gab. Quasi um sich für das hässliche Gerede der Ludwigshausner Plebejer zu rächen, beschlossen Johannes Schmal und Rudi Fleischmann – auch letzter hatte zwischenzeitlich eine eigene Zahnarztpraxis eröffnet – ihren Freund Wolfrath in der Tat mit einer Party auf dem Seefeld zu überraschen, zu der sie sämtliche ihrer Sprechstundenhilfen einzuladen gedachten, dabei bewusst das einmalige Brechen ihres Ehrenkodex` in Kauf nehmend, handelte es sich doch schließlich um eine Ausnahmesituation. Und so kam es, am ersten Juni-Wochenende 1974, zu jener Jahrhundertorgie an einem verträumten Waldsee, die in die Annalen von Ludwigshausen eingehen sollte und die im Laufe der Folgewochen durch zahlreiche Übertreibungen und Lügen immer weiter aufgebauscht wurde. Natürlich wurde auch Juliane Lübben der Vorfall zugetragen, noch dazu auf eine ihr höchst unangenehme Art und Weise, von einem ihrer Industriearbeiter. Juliane Lübben kochte vor Wut und schwor auf Rache, wenn sie auch noch nicht wusste wie. Einige Tage später beschloss Wolftrath, nach Hause zurückzukehren, und Juliane machte zunächst gute Miene zum bösen Spiel, allein schon zuliebe ihres Sohnes Jan, dem sie, ob der Abwesenheit des Vaters, etwas von einer Dienstreise vorgelogen hatte und der sich wie wahnsinnig über dessen Heimkehr freute.
Читать дальше