Etwa zwei Jahre nach dem Tode ihres Wolfrath machte sie einen ebenso kurzen wie definitiv letzten Versuch, erneut mit einem Mann zusammenzuleben, ein Experiment, das wenige Monate später in einem infernalischen Streit im Flur der Lübbenschen Wohnung endete, bei der sich Juliane Lübben, vor den Augen Jans, der, wie zu Eis erstarrt, die Szene aus der einen Spalt weit geöffneten Tür seines Kinderzimmers beobachtete, eine laut schallende Ohrfeige eintrug. Mit dem Eintreten Jans in die Pubertät verlor Juliane Lübben dann auch noch ihren letzten Halt: Bereits mit 13 Jahren war Jan Lübben nicht mehr kontrollierbar und setzte seinen Willen nun zunehmend mit unbändigen Zornes-Attacken durch. Weitere zwei Jahre später war aus ihrem einst ruhigen, gutmütigen, fröhlichen Kind ein rotzfrecher, arroganter, völlig unbeherrschbarer Bengel geworden, der ihr durch seine Eskapaden das Leben endgültig zur Hölle machte.
Nach dem Tod seines Vaters, im Juni 1974, wurde Jan Lübben für rund zehn Wochen in die Blausche Ferienresidenz Las Palmeras auf Teneriffa geschickt, während sich Juliane Lübben im gleichen Zeitraum in einem Sanatorium erholte. In Las Palmeras begleiteten ihn seine Hamburger Großeltern, sowie das treue spanische Kindermädchen Fabia, das ihn keine Minute aus den Augen ließ. Doch aus dem noch vor wenigen Wochen fröhlichen, fast stetig lachenden Jan war plötzlich ein melancholisches Wrack geworden, antriebslos, dumpf und stumm. Nur Fabia konnte ihm ab und an ein Lächeln entlocken oder ihn zu einem kurzen Ballspiel im weitläufigen Garten der Villa bewegen. Fabia, die gerade erst geheiratet hatte, aber noch ohne Kinder war, entsprach, zumindest äußerlich, dem vorgefertigten Bild eines spanischen mütterlichen Typs: Sie war von eher kleiner Statur, dafür aber, trotz ihrer jungen Jahre, bereits von recht stattlicher Leibesfülle, ohne dabei – auf hässliche Art – dick zu wirken. Sie hatte pechschwarzes, glänzendes Haar, das sie stets zu einem Knoten zurückgebunden trug. Ihre großen dunkelbraunen Augen, die das Puppenhafte ihres Gesichtes nur noch unterstrichen, wurden von langen, dicken Wimpern geziert, die sie immer etwas traurig wirken ließen. Zur Arbeit bei den Blaus trug sie stets eine perfekt gestärkte rosa-weiß gestreifte Uniform mit weißer Schürze. Als Jan Lübben noch ein Kleinkind war, nähte sie ihm, in stundenlanger, unbezahlter Heimarbeit, Kleider für seine Puppe ‚Buba’, ohne dass man ihr dies aufgetragen hätte, denn sie liebte den kleinen Enkel ihrer Herrschaft aufrichtig, und auch Jan hing sehr an seinem spanischen Kindermädchen. Den Kontakt zu anderen Kindern, wie überhaupt zur Außenwelt, lehnte Jan Lübben während der Zeit auf Teneriffa strikt ab. Nur einmal ließ er sich, zum Erstaunen seiner Großeltern, zu Fabia mit nach Hause nehmen, die in dem kleinen Küstendorf Punta Brava wohnte. Dort wurde er, in typisch kanarischer Manier, von Fabias Großfamilie einen ganzen Nachmittag lang verhätschelt und bekocht. Als er, nach knapp 70 Tagen, wieder nach Ludwigshausen zurückkam, sah er kerngesund aus: braungebrannt, das blonde Haar von der Sonne fast weiß gebleicht, und, durch Fabias sowie seiner Großmutters Hildegard Kochkünste bedingt, ein paar Kilo dicker geworden. Doch in seinem Inneren hatten bereits die ersten Auswirkungen einer manischen Depression ihr Vernichtungswerk begonnen; noch immer hatte ihm niemand erklärt, was genau mit seinem Vater geschehen war.
Mitte September 1974 wurde Jan Lübben in die Klasse 5a des Neusprachlichen Gymnasiums Ludwigshausen mit Erstfremdsprache Französisch eingeschult. Das Lehrerkollegium war bereits vorgewarnt, dass man es mit einer psychisch angeschlagenen Halbwaise zu tun bekäme und somit sanfte Nachsicht geboten sei. Natürlich war der ‚Neue´ von Beginn an Tratschthema Nummer eins im Lehrerzimmer des NGL, wo sich längst herumgesprochen hatte, dass sich der Vater des Jan Lübben im Suff zu Tode gefahren habe. Und natürlich wurde auch seitens des ehrenwerten Gymnasiallehrerkollegiums das Thema hübsch ausgeschmückt, aufgebauscht und aufs Garstigste kommentiert. Zunächst ließ sich der Schulwechsel Jans jedoch gut an: Er hatte nette, rücksichtsvolle Klassenkameraden, unter denen er schnell neue Freunde fand, insbesondere das Geschwisterpaar Klaus und Bettina Kenzelmann. Die Geschwister Kenzelmann stammten aus einfachen Verhältnissen, der Vater war Bürobote bei der Bank, die Mutter ging putzen. Doch Jan Lübben fühlte sich bei den Kenzelmanns zu Hause geborgen, stets behandelten sie ihn wie ein Familienmitglied. Darüber hinaus waren die Geschwister Kenzelmann treue Freunde und, im Laufe der Zeit, die ersten echten Gesprächspartner für Jan Lübben, Seelenverwandte, mit denen er sich auf einem geistigen Niveau wähnte. Auch mit den Lehrern hatte er zunächst Glück, zumindest teilweise. Da war beispielweise die kurz vor ihrer Pensionierung stehende Mathematiklehrerin Friedelknecht, ihres Zeichens Vizerektorin des NGL, die Jan Lübben persönlich unter ihre Fittiche nahm. Sie unternahm zumindest den Versuch, ihm seine in der Grundschule eingeprügelte Angst vor dem Rechnen und der Mengenlehre zu nehmen, wachte darüber hinaus akribisch darauf, dass im Lehrerzimmer nicht dumm über den ‚Fall Lübben’ dahergetratscht wurde. Dann war da der eigentlich von allen gefürchtete Deutschlehrer Böckel, gleichzeitig Klassenleiter der 5a. Böckel war ein schlanker Mann mittlerer Statur, der sein schwarzgraues Haar stets zu einem zackigen Bürstenschnitt geschoren trug. In seinem bleichen Gesicht prangte ein pechschwarzer Halbvollbart, der ihm ein gewisses dämonisches Aussehen verlieh, was durch die rechteckige, strenge Nickelbrille noch unterstrichen wurde. Böckel war ein Virtuose der deutschen Sprache, ein Meister des Wortes, ein regelrechter Gott der Grammatik, und er wusste all dies nur zu gut. Von seinen Schülern verlangte er absoluten Gehorsam. So mussten, beispielsweise, alle in ihren Federmäppchen exakt einen Pelikan- Füllfederhalter mit blauer Tinte, einen roten, einen schwarzen sowie einen grünen Filzstift, einen stets gespitzten Bleistift, einen Radiergummi, einen offenen Bleistiftspitzer und ein Lineal haben, nicht mehr und nicht weniger. Hefte und Bücher hatten stets blitzsauber zu sein, jegliche Zeichnungen oder Aufkleber waren strikt verboten, Zuwiderhandlungen hatten das zeremonielle Zerstören des Objektes der Schande vor den Augen aller zur Folge. Böckel war ein rechter Sadist und ein schlimmer Zyniker, er duldete weder faule noch dumme Schüler in seiner Klasse, denen er unverfroren einen „Wechsel auf die Hauptschule“ empfahl. Jan Lübben gefiel ihm von Beginn an; nicht nur, weil er sich strikt seiner Disziplin unterordnete. Nein, „das kleine blonde Monster“, so wie er ihn zu nennen pflegte, war, seiner Meinung nach, „sauintelligent“ und schrieb die besten Aufsätze, die er seit langem bei einem seiner Schüler gesehen hatte. Das Ganze ging sogar soweit, dass Jan Lübben von Böckel, im Falle von ´großen´ Klassenarbeiten, eine schriftliche Sondererlaubnis zum Längerschreiben bekam, die zwar von seinen Mitschülern, nicht aber vom übrigen Lehrerkollegium neidlos akzeptiert wurde. Auch mit seinem Geschichtslehrer, Dieter Schmeerig, verstand sich Jan überdurchschnittlich gut. Schmeerig war ein absoluter Sonderling: Von eher schlaksiger Statur, mit leicht verkrümmtem Rücken, Bierbäuchlein und ausgeprägten Plattfüßen, war er das glatte Gegenteil eines Athleten. Trotz seiner mindestens vierzig Jahre zierten die fettige Haut seines stets etwas gelblichen Gesichtes noch immer mindestens hundert Pickel, darüber fanden sich Reste eines ausgefledderten Haarschopfes undefinierbarer Farbe. Auf seiner Nase saß eine überdimensionale schwarze Hornbrille mit starken Gläsern, die seinem Gegenüber stets das Gefühl gaben, als wollten die Augen aus ihren Höhlen springen. Doch Schmeerig war eine Intelligenzbestie, ein absolutes Genie. Sein Geschichtsunterricht beschränkte sich nicht nur auf das Herunterleiern langweiliger Daten und Fakten. Nein, sein Unterricht war, bereits in der fünften Klasse, eine veritable Vorlesung. Am Ende des ersten Schuljahres auf dem NGL hatte Jan Lübben durchaus respektable Zensuren, sogar in seinem alten Problemfach, der Mathematik, und es sah fast so aus, als ob aus ihm ein recht passabler Gymnasiast werden könnte.
Читать дальше