Das Fräulein Kundelgau war eine alte, überaus hässliche Jungfer, untersetzt, flachbrüstig, mit fetten, krummen, stark behaarten Beinen und pissblondem Lockenköpfchen. Auf ihrer Nase saß eine glasbausteindicke, leicht dunkel eingefärbte Brille, durch die ihre stets etwas triefenden, blassbraun-grünen Haifischaugen glotzten. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, machte sie, als junge Pädagogin, schnell Karriere beim BDM, brachte es schließlich bis zur KZ-Aufseherin. Dort war es ihre Spezialität, elternlos gewordene Juden- oder Zigeunergören in den Latrinen des Lagers in ihrer eigenen Scheiße baden und anschließend ersticken zu lassen. Nach ihrer Entlassung aus dem amerikanischen Umerziehungslager wurde sie gleich wieder freudig als Lehrerin eingestellt. Nie sollte Jan Lübben vergessen, wie sie, mit sichtlich sadistischem Vergnügen, am ersten Schultag laut und schmatzend seinen Namen von ihrer Liste vorlas, sich dabei stille schwörend, ihn, die Brut ihrer meistgehassten Ex-Schülerin, wenn schon nicht physisch, so doch zumindest psychisch zu vernichten. Sicherlich, Jan war manisch faul und damit der Antityp eines Lieblingsschülers. Hinzu kam, dass er, aufgrund seiner viel zu späten Einschulung, die anderen auch noch um gut einen Kopf überragte, was den Hass des Fräulein Kundelgau nur noch zusätzlich anstachelte. Die beliebteste pädagogische Disziplin des Fräuleins war die körperliche Züchtigung, die sie mit hemmungslosem, geradezu orgiastischem Eifer betrieb. Neue Quälmethoden testete sie grundsätzlich zuerst an Jan, zur Abschreckung aber auch zum schaurigen Entzücken von dessen Mitschülern. Auf das Nichtwissen eines Multiplizierergebnisses, beispielsweise, stand `Fingerspitzen blutig schlagen´ mit einem dünnen Rohrstöckchen, das beim Ausholen ein forsches Pfeifen von sich gab. Alternativ dazu gab es die Varianten ‚Ohrenverdrehen einfach´, `Ohrenverdrehen mit Bluterguss´, `Kopfnuss´, `Haarbüschel ausreißen´ oder auch nur den guten alten Schlag ins Gesicht, mit der flachen Hand. Die Königsdisziplin war jedoch der große Zollstock. Dabei handelte es sich um einen genau einen Meter langen vierkantigen Holzstab, auf den in roter, schwarzer und weißer Farbe die verschiedenen metrischen Einheiten aufgepinselt waren. So stand, beispielsweise, auf das Vergehen `schlampig geführtes Heft´ folgende Strafe: Der Gewinner musste sich, den Kopf Richtung Fußboden ausgerichtet, über eine der Holzbänke legen, das Hinterteil angespannt und nach oben gestreckt. Dann prügelte das Fräulein solange auf den Arsch ein, bis das Opfer vor Schmerzen schrie oder sich in die Hosen pisste. Wer sich freilich in die Hose pisste wurde auch dafür wieder verdroschen. Manchmal, wirklich nur manchmal, sozusagen als Besonderheit, gab´s auch einen scharfen, gezielten Schlag in die kleinen Weichteile der verhassten Pennäler. Nicht zu verachten waren die psychischen Foltermethoden des Fräulein Kundelgau. Sie hatte ein außergewöhnliches Talent, jegliche Art von Schülerschwächen regelrecht zu riechen, ganz gleich, ob diese körperlichen, familiären oder geistigen Ursprungs waren. Hatte sie erst einen Schwachpunkt entdeckt, ließ sie solange nicht locker, bis der betreffende sein lebenslanges Trauma weghatte. Schon nach den ersten zwei Grundschuljahren war Jan Lübben tüchtig verkorkst, jegliches möglicherweise vorhandene Talent war nachhaltig herausgeprügelt.
Bald stand im Hause Lübben ein großer Umzug an, denn Jan Lübbens Vater Wolfrath hatte die Schnauze endgültig voll von der lauten und schmutzigen Westendstraße. Und so mietete er, gegen den Willen seiner Frau, eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Neubau auf der Römerschanze, einem noch jungen Stadtteil im Grünen, am Rande von Ludwigshausen, wo sich nun, peu à peu, die Besseren Leute ansiedelten. Juliane Lübben schmeckte der Umzug überhaupt nicht, denn jetzt war sie nicht mehr in der Nähe ihrer Fabrik und auch ihre Eltern fanden sich nun plötzlich am anderen Ende der Stadt. Für Jan Lübben stand mit dem Umzug eigentlich ein Schulwechsel an, denn er gehörte jetzt, streng verwaltungstechnisch gesehen, auf die Römerschänzer Grundschule, eine Ganztagsschule, die als die beste der Stadt galt. Doch seine Mutter Juliane setzte alles daran, dass er trotzdem auf der Huckelsberg-Schule blieb, denn so konnte sie ihren Sohn weiterhin täglich bei den Großeltern abliefern, wo sie ihn besser aufgehoben wähnte. Es war nicht etwa so, dass Juliane Lübben ihren Jan nicht liebte, nicht stets das Beste für ihn wollte, ganz im Gegenteil; doch war ihr jedwedes akademische Denken einfach fremd. Und so kam es, dass Jan, trotz der neuen Wohnung und gegen den Willen seines Vaters, weitere zwei Jahre auf der alten Schule blieb. In der Umzugswoche hatten Juliane und Wolfrath Lübben ihren ersten großen Ehekrach. Die neue Wohnung der Familie Lübben lag in einem nagelneuen vierstöckigen Miethaus am Truffaud-Ring, einer ebenfalls nagelneuen Straße, im nagelneuen Nobel-Viertel Römerschanze. Hier wohnten die Ludwigshausner Gutbürger, die Chemiefabrikanten, die Bauunternehmer, die Anwälte, die Architekten, die Oberlehrer und die Ärzte. Blitzsaubere, ja aseptische Einfamilien-Bungalows in blitzsauberen, frischbepflanzten Gärten stehend. Das brave viergeschossige Miethaus, in dem sich die Wohnung der Lübbens fand, wirkte hier fast wie ein Fremdkörper, ebenso wie der orange-rote R5 von Wolfrath Lübben, der sich scheu zwischen den schweren Limousinen der Nachbarschaft duckte. Auch Jan Lübben war ein Fremdkörper auf dem, für Ludwigshausner Maßstäbe, feinen Truffaud-Ring. Die Fabrikanten- und Oberlehrer-Söhne aus der neuen Nachbarschaft rochen, geifernden, sabbernden, geilen Bluthunden gleich, dass er nicht aus dem gleichen Stall stammte, sie rochen, dass er in der Hindenburgstraße mit Schmuddelkindern gespielt hatte und sie rochen, dass er auf der Huckelsberg-Schule mit Geistesschwachen, Psychopaten und Trinker-Kindern die Bank teilte. Und so war Jan Lübben von Beginn an der von allen verachtete Außenseiter, der Sonderling, der Absonderliche, vielleicht sogar der Schmutzige, denn Armut ist ja auch immer Schmutz, Aussatz, für die Oberstädtler, macht jenen Angst, die, in parfümierte Watte gebettet, an der weichen Brust der sorglosen, seichten, glatten, ewig reibungslosen Bürgerlichkeit aufgewachsen sind. Die Lübbens wohnten in der zweiten Etage mit Hanglage, wo sie eine schöne helle Wohnung mit Terrasse und sogar einem kleinen Garten bezogen hatten. Unter ihnen gab es noch eine Kellerwohnung, wo eine halb verblödete, bösartige Alte hauste, die aber, zur großen Erleichterung Jan Lübbens, bald das Zeitliche segnete. In der Wohnung über den Lübbens wechselten die Mieter so häufig, dass Jan sich nicht mehr an Details erinnern konnte. Doch im vierten Stock waren die Ottos eingezogen. Auch Familie Otto bestand nur aus drei Mitgliedern, dem Ehepaar Richard und Hildegard Otto, sowie deren Sohn Thomas, der etwa zwei Jahre jünger als Jan Lübben war. Richard Otto betrieb ein kleines Transportunternehmen, Hildegard Otto widmete sich dem Haushalt. Zwischen den Ottos und den Lübbens entstand bald eine nachbarschaftliche, bald auch eine persönliche Freundschaft. Insbesondere Wolfrath Lübben und Richard Otto verstanden sich hervorragend. Beide waren Autonarren, beide waren Hobbyköche und, vor allem waren sie beide standfeste Trinker, ein Laster, dem sie regelmäßig mal in der einen, mal in der anderen Hausbar frönten, sehr zum Leidwesen ihrer jeweiligen Gattinnen.
Am Wochenende gingen die beiden jungen Familien oft gemeinsam zum Wandern. Das kleine Industriestädtchen Ludwigshausen lag mitten in einem riesigen Waldgebiet, mit fast unwirklich schönen, endlosen, dichten Pfaden, wo entsprechende sonntägliche Ausflüge als eine Art Nationalsport betrieben wurden. Richard Otto war nicht nur ein begeisterter und durchtrainierter Wanderer, mit den für die Männer der Region so typischen dicken Waden, sondern auch ein regelrechter Vergnügungswart, ein Clown, der gut mit Kindern umgehen konnte. Während der Wanderungen machte er stets unzählige Späße mit Jan und seinem Sohn Thomas, ersann sich die ulkigsten Phantasiefiguren, erzählte die komischsten Witze und sang kindische oder auch schlüpfrige Lieder. Stets schleppte er einen prall gefüllten Rucksack mit sich, aus dem er immer wieder Leckereien für die Kinder zauberte, dazu einen dicken, naturgewachsenen, gedrehten Wanderstab, in dessen Kopfende das Gesicht eines Walddämons geschnitzt war. Auch trug er die typischen Dreiviertel-Hosen aus grobem Wildleder, rote Kniestrümpfe, ein kariertes Hemd, einen grauen Spitzhut mit Feder und einen dichten schwarzen Vollbart, der das Bild vom lebenslustigen, romantischen Vagabunden vollends abrundete. Fast immer endeten die Exkursionen in einem der zahlreichen Waldheime der Gegend, einfachen Wanderhütten, die von freiwilligen Helfern mit deftiger Hausmannskost bewirtschaftet wurden. Dort gab´s dann Erbsensuppe mit Wiener oder Hausmacher Wurst mit Brot, anschließend frischen Kuchen oder Mohrenköpfe, dazu natürlich reichlich Weinschorle für die Erwachsenen und Fanta oder Malzbier für die Kinder. Das Einkehren auf den Wanderhütten, insbesondere im nicht allzu weit von der Stadt entfernten Wanderheim ´Drei Birken´, barg immer eine gewisse Gefahr, denn oft endete das Ganze in einem tüchtigen Besäufnis. So war es nichts Ungewöhnliches, dass ein erwachsener Ludwigshausner an einem normalen Sonntagnachmittag fünf oder sechs Schoppen Weinschorlen trank, dazu noch mal die gleiche Menge Schnaps. Einmal waren die Ottos so stark betrunken, dass sie ihren Thomas glatt in der gemütlichen Gaststube der ´Drei Birken` sitzen ließen, und sich erst Stunden später, verkatert, daran erinnerten, dass sie ihren Sohn im Wald vergessen hatten. Unterdessen machten sich Richard Otto und Wolfrath Lübben bald einen Ruf als hervorragende Hobbyköche am Truffaud-Ring. Richard Ottos Spezialität waren Pilze und Wildgerichte, Wolfrath Lübben war hingegen ein begnadeter Pizzabäcker. Und so kamen die beiden eines Tages auf die Idee, ein Mini-Straßenfest zu organisieren, mit Pizza, Bier vom Fass und reichlich Schnaps; eingeladen war, wer Lust hatte. Und so begab es sich, dass, an jenem Sonntagnachmittag im Spätsommer, Richard Otto und Wolfrath Lübben in die feine Gesellschaft ihrer akademisch gebildeten Nachbarschaft aufgenommen wurden, denn auch die Notare, Architekten und Ärzte soffen ihr Bier, ihren Schnaps und fraßen ihre leckere Pizza nach Herzenslust.
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