Auch Wilhelm Gundermann entstammte einer gutsituierten Familie. Sein Vater betrieb eine florierende Baufirma, die Mutter war eine belesene Intellektuelle, die fließend auf Englisch und Französisch fluchen konnte. Wilhelm Gundermann zeigte sich schon in jungen Jahren als wilder, jähzorniger, stolzer Rebell und er dachte überhaupt nicht daran, sich in das Familienunternehmen zu integrieren. So kam es, dass er bereits mit 17 Jahren von zu Hause fortlief, um sich freiwillig bei der Wehrmacht zu melden. Später, als die Nationalsozialisten kamen, wurde er begeisterter SA-Mann, um dann schließlich im Kriege als Unteroffizier mit den „Panzern“, wie er zu sagen pflegte, vor Stalingrad zu landen. Zum Offizier hatte er es nicht gebracht, denn auch dafür war er zu frech und zu rebellisch. Doch vielleicht war es gerade diese unverschämte, rotzfreche Art, die ihm das Leben gerettet hatte und ihn sogar vor der Gefangenschaft bewahrte. Nach dem Kriege wurde er dann Beamter auf dem Sozialamt, was damals als etwas Besseres galt. Dennoch, das junge Ehepaar landete in einer Situation stetiger Geldknappheit, denn Opa Wilhelm wurde bald zur Strafe enterbt und Oma Gerlis Familie verlor fast alles durch die Behinderung des Vaters. Das Wenige, was übrigblieb, rissen sich die raffgierigen Verwandten aus dem Frankenland unter den Nagel, Gerlinde Gundermann hatte das Nachsehen und war außerdem viel zu gutmütig, um sich um das liebe Geld zu balgen. Oma Gerli und Opa Wilhelm waren die liebevollsten Großeltern, die man sich vorstellen konnte. In der winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung in der Hindenburgstraße hatten beide ihr mit unsichtbaren Grenzen versehenes Revier; so war Opa Wilhelm der uneingeschränkte Herrscher des Wohnzimmers, wo er, ursprünglich wegen seiner furchteinflößenden Schnarcherei, auch meistens auf dem Sofa schlief. Dieses war ein wundervoll weiches, bequemes Sofa mit fuchsfarbenem Samtbezug, in den Streifen eingewirkt waren. Oft blieb Opa Wilhelm, in mehrere Pyjamas gehüllt und stets mit einer schwarzen, grobwollenen Mütze versehen, bis mittags liegen. Er schlief für sein Leben gerne, vielleicht weil er im Krieg fünfeinhalb Jahre lang nicht schlafen durfte. Stets litt er unter Kopfschmerzen, was von allen als Verrücktheit eines Kriegsveteranen abgetan wurde, der im Felde den Verstand verloren hatte, während in seinem Schädel tatsächlich bereits ein bösartiger Tumor sein heimtückisches Vernichtungswerk trieb. Oma Gerli hingegen regierte in der gemütlichen Wohnküche und hatte auch das kleine Schlafzimmer ganz für sich. Sie verwöhnte ihren Enkel nach Strich und Faden, kochte ihm nach dem Munde, kaufte ihm, trotz ihrer stets knappen Kasse, seine geliebten Modellautos, später die Micky-Maus-Hefte, dann die Bravo und noch später sogar die Zigaretten, denn schon als 14-Jähriger fing Jan mit dem Rauchen an. Seine ersten Zigaretten rauchte er bereits mit vier, aus einem kleinen gelben Plastikpfeifchen mit rotem Pfeifenkopf. Die Glimmstängel klaute er seinem Vater aus einer runden hölzernen Dose mit Zinndeckel, die stets auf dem elterlichen Wohnzimmertisch stand. Einmal erwischte ihn sein Vater, wie er sich, ebenfalls als Vier- oder Fünfjähriger, gerade über eine Flasche Bier hermachen wollte. Oma Gerli verzieh ihm alles, jede Dummheit, jede Garstigkeit, was er ihr, als kleiner Knirps, durch zahlreiche Bisse ins Bein und allerlei ungezogenes Geschrei mit knallrotem Kopf und zornigen Tränen dankte. Wenn Jan ihr, meist in aller Öffentlichkeit, eine seiner Szenen machte, dann schämte sich Gerli Gundermann in Grund und Boden, denn der Gedanke, ‚die Leute’ könnten denken, sie behandle ihren Enkel schlecht, war ihr ein absoluter Graus. Später, Jan Lübben war schon Oberschüler, war sie stets der einzige Mensch, der ihm immer wieder alle Sünden vergab, an den er sich immer, ganz gleich, was er ausgefressen hatte, wenden konnte. Sie war eine einfache und nicht eben belesene Frau, hatte aber das größte Herz und die reinste Seele, die man sich vorstellen konnte. Was Opa Wilhelm anbelangte, so war er das glatte Gegenteil von dem, was man allgemeinhin als guten Christenmenschen bezeichnet: Arrogant, jähzornig, unendlich stolz, ein schlechter Vater und ein noch schlechterer Ehemann. Darüber hinaus trauerte er, bis zu seinem Tode, dem Großdeutschen Reich und dessen siegreichen Eroberungsfeldzügen nach. Er schiss auf Juden, Araber, Neger, Franzosen, Amis, Schwule und Zigeuner. Nur die Russen mochte er recht gut leiden, denn die hatte er im Krieg als tapfere Soldaten kennen- und somit – nach seinem Weltbild – schätzen gelernt. Der Zweite Weltkrieg war für ihn nie zu Ende gegangen, nie verloren worden. Und dennoch war er ein überaus liebevoller Großvater, der seinen Enkel Jan behütete, wie ein rohes Ei. Vor Weihnachten verbrachte er Wochen im Keller, um ihm Holzspielzeug zu basteln, denn er war ein begnadeter Handwerker, ja ein regelrechter Künstler. Einmal drechselte er ihm so eine Lokomotive, ein andermal ein Ritterschwert, wie es schöner aus keiner Fabrik hätte kommen können. Als Jan Lübben in die Schule kam – er war von Beginn an ein hoffnungsloser Faulpelz – begleitete ihn Opa Wilhelm bis ins Klassenzimmer, schrieb ihm sogar die Hausaufgaben, die man seinerzeit noch mit einem Griffel auf eine kleine Schiefertafel kritzeln musste, von der Tafel ab. Zu Hause übte er dann mit ihm Rechnen und Schönschrift, beides vergebliche Liebesmüh, denn Jan wollte einfach nichts lernen. Das Mittagessen, das Oma Gerli täglich für sie zubereitete, nahmen die beiden gemeinsam in der gemütlichen Wohnküche ein. Im Winter loderten dann die Briketts im weiß emaillierten Kohleofen, auf dem auch gekocht wurde. Wilhelm Gundermann war dabei meist noch in seine Pyjamas und seine schwarze, grobwollene Mütze gehüllt. Jan hatte den Eindruck, sie sei ihm auf dem Kopf festgewachsen. Er war ein überaus hagerer, jedoch recht drahtiger Mann, dem man die Strapazen des Weltkriegs noch immer deutlich ansah. Seine Haut war weiß, fast durchsichtig, dazu bildeten seine blau-grünen, stechenden Augen und das feuerrote Haar einen seltsamen Kontrast. Seine dünnen, schneeweißen Beine waren mit wurzeldicken Krampfadern überzogen, die er sich ebenfalls im Krieg gezüchtet hatte. Die Mittagsstunde etwa nutzte er sehr gerne, um seinen Enkel Jan politisch und weltanschaulich zu unterrichten; So baute er einmal auf seinem Teller ein KZ: Die aufgeraute Verzierung des mit blauem Blümchenmuster handbemalten Porzellantellerrandes war dabei der Stacheldraht, das Gulasch, das Oma Gerli gekocht hatte, war die SS. Das Kartoffelpüree, in der Mitte des Tellers, waren die gefangenen Juden. Dann stach Opa Gundermann, mit hervorquellenden Augen, wie wild mit seiner Gabel auf den Kartoffelbrei ein und rief dabei immer wieder laut und abgehackt: „Judd! Judd! Judd!“ Die wirklich leckere braune Gulasch-Sauce war dann das Blut. Anschließend steckte er sich seelenruhig, als sei nichts geschehen, eine HB an – er rauchte wie ein Schlot – lachte und klopfte seinem Enkel liebevoll auf die Schulter. Nach dem Mittagessen begaben sich Großvater und Enkel meistens ins Wohnzimmer. Dort legte Wilhelm Gundermann Marschmusik auf und dann spielten sie, bewaffnet mit stumpfen Fleischermessern oder Tortenhebern, Russenkillen in Stalingrad. Am liebsten hörten sie dabei den Radetzkymarsch, den sie stets volle Kanne aufdrehten. Jan Lübben war total verrückt aufs Krieg spielen, er konnte nicht genug davon bekommen, vom fiktiven ´Russen mit dem Flammenwerfer jagen´, ´Juden aufstöbern´ oder ´Franzosen mit dem Bajonett abstechen´, all dies begleitet vom wie irren Augenrollen sowie den abgehackten Gesten und Befehlen des Großvaters. Manchmal gingen die beiden auch ins Kino. Ihr Lieblingsfilm war „Steiner, das Eiserne Kreuz“, den spielten sie dann zu Hause nach, auf dem Wohnzimmerteppich, mit kleinen Metallpanzern, die winzige rote Plastik-Granaten verschossen. Das herrliche Kriegsspielzeug gab´s bei Siebenhüner, dem einzigen veritablen Spielwarenfachgeschäft der Stadt, wo beide Stammkunden waren. Sie hatten auch die tollste Spielzeugpistolen-Kollektion der Hindenburgstraße, und einmal kaufte Opa Gundermann bei Eisen-Silbermann sogar eine echte Schreckschuss-Pistole, mit der die beiden dann, vom Badezimmerfenster aus in den Garten, auf den imaginären Feind schossen, der natürlich aus Frankreich herüberkam. Schon als Fünfjähriger fand Jan Lübben Waffen total geil und liebte den kalten, metallischen Ölgeruch des großväterlichen Schießeisens.
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