Sie nahm einfach meine Hand und legte sie auf ihre Wange. Ich war so verblüfft, dass ich erst einen Wimpernschlag später begriff, was sie meinte. Dann begann ich, sanft ihr Gesicht abzutasten. Sie hatte eine kleine, ein bisschen knubbelige Nase, unglaublich zarte Haut und kurze Haare, wie wir sie fast alle trugen, weil sie nicht so lange zum Trocknen brauchten. »Fühlt sich alles ziemlich gut an«, sagte ich. Sie roch auch gut, nach frischem Wasser und Baumharz und den Nüssen, die sie wahrscheinlich vorhin gegessen hatte.
»Na, schade, dass du auf diese Art nicht sehen kannst, wie schön der Himmel heute aussieht. Er ist von weißen Wölkchen richtig gesprenkelt.«
»Das muss ich mir eben vorstellen«, erwiderte ich und versuchte es gleich mal.
Gerade wollte ich dem Mädchen davon erzählen, da sagte es hastig: »Ich muss gehen. Da ist mein Bruder, er wartet schon auf mich. Friede den Gilden!«
»Äh, und Wohlstand ganz Daresh«, brachte ich gerade noch heraus und ärgerte mich, weil ich vergessen hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Udiko und ich verbrachten die ganze nächste Woche auf verschiedenen Märkten, in Schänken und Handelsposten. Meist unterhielten wir uns kaum dabei, hörten nur zu und verglichen ab und zu unsere Eindrücke oder machten Bemerkungen. Ob Udiko wusste, dass ich nach einer ganz bestimmten Stimme lauschte? Aber sie war nie dabei. Keine Chance , dachte ich. Du weißt nicht, wie sie heißt, du weißt nicht genau, wie sie aussieht ... Vergiss es einfach!
Abends, zurück in der Wohnkuppel am Grund des Sees, unterhielten Udiko und ich uns ausführlicher über die Gespräche, die wir mitgehört hatten. Unter seiner Anleitung lernte ich, die feinen Schwingungen aus Stimmen herauszuhören, die eine Lüge verrieten. Nach zwei Tagen hatte ich auch keine Probleme mehr damit, mehrere Gespräche gleichzeitig zu verfolgen, indem ich mal hier, mal dort ein paar Atemzüge lang mithörte. Udiko brachte mir bei, aus dem Akzent festzustellen, aus welcher Gegend von Daresh jemand stammte, und durch die Redeweise und Anhaltspunkte im Gespräch innerhalb von kurzer Zeit herauszufinden, was für einer Gilde derjenige angehörte, was für eine Berufung er hatte, in welchen Verhältnissen er aufgewachsen war, wie er lebte und dachte.
Manchmal versuchte ich, meine neuen Fähigkeiten auf Udiko selbst anzuwenden. Ich wusste kaum etwas über ihn, und er war natürlich der Mensch, der mich im Moment am meisten interessierte. Doch Udiko schaffte es auf irgendeine Art, gleichzeitig völlig ehrlich zu sein und sehr wenig über sich zu verraten. Ich konnte den Nebelschleier, den er über seine Persönlichkeit legte, förmlich spüren. Natürlich war es mein Fehler – ich traute mich noch nicht, ihn einfach auszufragen. So, wie auch er mir keine Fragen stellte, obwohl ich sein Lehrling war und mit ihm in einer Kuppel lebte. Ich glaube, er wartete darauf, bis ich bereit war, ihm freiwillig etwas über mich zu erzählen.
An einem regnerischen Abend kurz nach Sonnenuntergang verkündete der Große Udiko: »Die zwei Wochen sind um. Du kannst das Tuch nun wieder abnehmen, wenn du willst.«
Ob ich wollte? Was für eine Frage! Allerdings hatte sich der Knoten so festgezogen, dass ich mein Messer zu Hilfe nehmen und das Tuch zerschneiden musste. Langsam zog ich es mir vom Kopf – und war froh, dass Udiko eines seiner beiden Leuchttierchen abgedeckt hatte. Selbst der schwache Schein tat mir in den Augen weh.
»Morgen gehst du nicht raus – du musst dich langsam wieder ans Licht gewöhnen«, befahl Udiko. Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter. »Glückwunsch. Diese erste Zeit war nicht leicht, aber du hast dich gut gehalten, Tjeri.«
In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich alles durchstehen konnte, was jetzt noch kommen würde. Das lag nicht nur an dem Lob. Ich hatte eine Ahnung davon bekommen, was ein Sucher ist, was ich aus mir machen könnte – und ich war wild darauf, mehr zu lernen.
Damals wusste ich nicht, dass Udiko und mir die wahre Zerreißprobe noch bevorstand.
Unter der Erde gab es keine Nacht und keinen Tag. Aber in der Felsenburg gab es Zeiten, in denen es ruhiger war, weil die meisten Dörflinge schliefen, und diese Zeiten nutzten die Halbmenschen, um sich davonzuschleichen von ihren aufgezwungenen Arbeiten. Auch Mi'raela ging hin und wieder zu den Treffen, meist nachts, wenn Spinnenfinger hinter seiner Tür schnarchte. Über wenig benutzte Gänge und geheime Tunnel schlich sie sich zu den Lagerräumen tief, tief unten, in denen sich ihre Leidensgenossen versammelten.
Hier waren sie vor Entdeckung so sicher, wie es in der Felsenburg überhaupt möglich war – nur sehr selten kam jemand hierher, der nicht zur Bruderschaft aller Halbmenschen gehörte. Und wenn doch einmal ein Dörfling die Treppen hinab polterte, um Vorräte zu holen, dann fand er nichts außer leeren Räumen und einem leichten Raubtiergeruch, der noch in der Luft hing. Denn Katzenmenschen hatten feine Ohren, und Iltismenschen noch feinere, und beide verstanden etwas davon, sich zu verstecken. Auch belauschen konnte ein Mensch die heimlichen Versammlungen nicht. Dabei wurde kein Wort Daresi gesprochen, und die Sprachen der Halbmenschen klangen für Fremde wie scheußliches Kauderwelsch.
In dieser Nacht hatten sich ein halbes Dutzend Katzen eingefunden, zehn Iltisse, ein Natternmensch, dessen Aufgabe darin bestand, die Wasserspeicher unter der Burg frei von Parasiten zu halten, und drei Krötenmenschen, die ebenfalls das Reservoir pflegten. Wie üblich saßen die Krötenmenschen verschüchtert beieinander, denn die Iltismenschen machten sich nicht selten einen Spaß daraus, üble Witze auf ihre Kosten zu erzählen und sich darüber auszutauschen, wie Kröte schmeckte. Mi'raela wunderte sich, dass die Krötenmenschen überhaupt noch kamen. Sie schienen mehr Mumm zu haben, als die meisten ihnen zutrauten.
»... halb totgeschlagen hat ihn ein Aufseher, und nur weil mein Bruder ihn angeknurrt hat«, berichtete ein Iltismensch gerade die neusten Neuigkeiten aus den Küchen, Kellern und Dienstbotenräumen der Burg. »Ach, ich könnte sie in Stücke reißen, in Stücke! Wenn nur die Quelle nicht wäre.«
Ja, die Quelle . Der geheimnisvolle Stein der Regentin, der bewirkte, dass kein Halbmensch ihr und ihren Schergen den Gehorsam verweigern konnte.
»Irgendwann wird wieder jemand kommen, der die Quelle berührt, und dann sind wir frei«, meinte der Krötenmensch sehnsüchtig.
Niemand antwortete ihm. Es war schon sehr, sehr lange her, dass ein Mensch die Quelle berührt hatte. Mi'raela gab sich wenig Illusionen darüber hin, dass es während ihrer Lebenszeit noch einmal einen Versuch geben würde, geschweige denn einen erfolgreichen. Sie entschied sich, das Thema zu wechseln.
»Eine Menschenwelpin treibt sich bei den Teichen herum«, sagte sie. »Nachts auch noch, nachts. Sie macht viel Lärm.«
»Ich habe sie bemerkt«, meinte ein Iltis, und ein paar der anderen nickten. »Sehr jung noch und neu in der Burg.«
»Lästig ist das – sie bringt alles durcheinander, alles. Ich kann dort keine Wasserkäfer jagen, ehe sie wieder weg ist«, beschwerte sich Zz'eldan, der Natternmensch. »Hast du mit ihr gesprochen, Mi'raela?«
»Ja. Sie wirkt harmlos.«
»Wer weiß. Vielleicht spioniert sie für die Dörflinge, warum soll sie sonst um diese Zeit in der Burg unterwegs sein?«, meinte ein alter Iltismensch namens Cchrnoyo. »Fern halten solltest du dich von ihr, fern, sonst erfährt sie zu viel über uns.«
Das gefiel Mi'raela nicht. Gut, Cchrnoyo war alt und weise, er hatte den Ehrentitel eines Caristans bei den Iltismenschen und genoss hohes Ansehen in der Bruderschaft. Aber sie selbst nicht minder! Natürlich hatte er Recht – aber was fiel ihm ein, ihr vor allen anderen Ratschläge zu erteilen? Demonstrativ fuhr sie ihre Krallen aus und schärfte sie an einer Holzkiste. »Mal sehen«, sagte sie beiläufig. »Was gibt es schon groß zu verraten?«
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