Noch hatte sie offiziell nichts Schlimmeres verbrochen, als eine Gerichtsverhandlung durch ihr Fehlen platzen zu lassen. Oder? Suchten die Beamten sie vielleicht doch schon wegen Mordes?
Kein Radio, keine Nachrichten, lieber eine Kassette. Etwas Sanftes und Beruhigendes, Nervenmusik, tönende Tranquilizer als Ersatz für das Valium, das sie auf dem Nachttischchen neben ihrem Bett vergessen hatte. Ausgerechnet das Valium. Wie konnte sie es nur übersehen haben? Sie brauchte die Tabletten doch. Sie brauchte sie, um die elend langen Stunden der Tage und Nächte zu ertragen, um den Geist nicht kampflos wegdriften zu lassen in den Irrsinn, der manchmal so übermächtig lockte. Sie brauchte das Valium so nötig wie die tägliche Flasche Wein, um die Furcht zu betäuben. Natürlich nicht für immer. Nur zur Überbrückung, als Stabilisator der Seele, bis Richard aus seinem Schmerz erwachte und seine verschüttete Liebe zu ihr wiederfand. Bis alles wieder so wurde wie vor Simons Unfall. Nur, dass der Junge sie nicht mehr würde stören konnte. Ebenso wenig wie Annelie.
Sie schob die Kassette in den Schlitz des Rekorders. When you’re veary, feeling small, when tears are in your eyes, I will dry them all; I’m on your side... Simon and Garfunkel. Bridge over troubled water.
Lydia biss die Zähne zusammen und trat die Kupplung durch. Ihr Körper begann zu kribbeln, als sei er verkabelt. Valium und Wein. Diese herrlich dumpfe Betäubung der Angst, die Verlangsamung des Herzschlages, der träge Puls, wenn sie ganz still auf ihrem Bett lag, und die Tabletten mit dem Alkohol zu wirken begannen. Zwei Valium oder sogar drei, bis sich die kräftigen Farben der Tiffanylampe an der Decke vor ihren Augen zu einer bunten Spirale krümmten, die sich schneller und schneller drehte, und sie endlich in den Schlaf sog.
When times get rough and friends just can’t be found ...
Sie drehte voll Zorn am Lautstärkeknopf, bis ihr Simon and Garfunkel ohne Text und Melodie in die Ohren brüllten, die Bässe in ihrem Kopf hämmerten, und das Gedröhn sie in den Sitz presste wie in einer startenden Rakete. Übelkeit schwappte ihr die Kehle hoch, die Bäume verschwammen vor ihren Augen, und ihr Körper bäumte sich erneut auf.
Irgendwann später weckte sie ihr eigenes qualvolles Stöhnen aus halber Bewusstlosigkeit. Der Fiat stand quer zur Straße und neigte sich nach vorn, die Vorderräder tiefer auf dem unbefestigten Straßenrand, der zum Graben abfiel, die Hinterräder auf dem Randbuckel des Asphalts. Der Motor brummte noch, doch die Kassette schwieg. Sie presste ihren Kopf mit schmerzhafter Gewalt gegen die Kopfstütze des Sitzes, mit durchgedrücktem Hohlkreuz, der Nacken steif, die Muskeln zu beiden Seiten des Halses wie Drahtseile gespannt, der Fuß bis zum Anschlag auf der Bremse. Der Körper gefangen in katatonischer Starre.
Langsam entspannte sie sich wieder, zwang ihre Lunge zum Atmen und beugte den schmerzenden Nacken. Sie tastete mit den Fingern nach dem kleinen goldenen Herzen an der Halskette. Zu unserem Jahrestag. Ich liebe dich, mein Engel.
Silvester in Kitzbühel.
Nur Stunden später, an diesem frostigen Neujahrsmorgen zwischen glitzernden Schneebergen, erpresste ihn Annelie, die Ehe mit ihr fortzusetzen und sie, Lydia, aus der Werbeagentur zu feuern.
Das Herz auf der nackten Haut unter dem Pullover hatte ihr während der grauenvollen Gerichtsverhandlung Trost gegeben, als sie wie in Trance auf der Anklagebank saß, und fassungslos Richards kalter Stimme lauschte, die sie des vorsätzlichen Mordes an seinem Sohn Simon anklagte. Ohne das Herz, den tastbaren Beweis seiner ewigen Liebe, und ohne ihre Erinnerung an ihrer beider Zärtlichkeiten, hätte sie diese Tage des Grauens und der Demütigung niemals durchgestanden.
Sie dachte an die beiden Weinflaschen, die sie am Stadtrand beim hastigen Auftanken gekauft hatte, und ihre Zunge leckte gierig über die Lippen. Roter Chianti in Flaschen mit Schraubverschlüssen, weil ihr gerade noch der fehlende Korkenzieher eingefallen war. Er würde lauwarm sein, der Wein, aber vielleicht gab es, wo immer sie landete, eine Minibar auf dem Zimmer, und sie würde ihn kühlen können. Den Rest der Flasche jedenfalls, das erste Glas, warm oder nicht, brauchte sie gleich nach ihrer Ankunft, die kribbelnden Nerven beruhigen. Kein Valium, nur billiger Chianti. Sie konnte es kaum noch aushalten.
Bevor sie auf die Straße zurücksetzte, kniff sie sich aufmunternd in den Oberschenkel. Nur keinen Unfall bauen. Nicht durchdrehen. Wenn die Pension nicht mehr existierte, fand sie vielleicht eine andere Übernachtungsmöglichkeit an dieser abgelegenen leeren Landstraße. Hier gab es keine Laster, die unerwartet an ihr vorbeidonnerten, keine Fahrer, die ihr entgegenkommend mordlustig aufblendeten. Nur einmal tauchten zwei Rehe aus dem dunklen Wald auf, wechselten mit flinken Beinen über den Asphalt und verschwanden jenseits der Straße wieder im Nichts. Sie lächelte, doch es waren nur die Lippen, die sich auseinanderzogen, sie fühlte nicht wie früher diesen Anflug freudiger Erregung, wenn sich ihr die Natur lebendig darbot.
Die Pension Odin kündigte sich nicht vorher an, sie war auf einmal da. Eben noch fuhr Lydia Vermeeren durch den Wald, der Blick aus weiten Pupillen den Scheinwerfern in die Dunkelheit vorausgeschickt, da plötzlich machte die Straße eine scharfe Rechtskurve. Der Fiat tauchte aus der Schwärze des Waldes in das dämmrige Abendlicht einer ausgedehnten Lichtung ein, und die Pension Odin lag direkt vor ihr. Sie bremste scharf und bog auf den unbefestigten Parkplatz mit seinen ausgedehnten Pfützen ab. Zwei Wagen standen vor dem Haus, ein alter grüner und offenbar betagter Opel mit hell ausgespachtelten Beulen und ein roter Citroën. Eine Ente.
Beim Anblick der Ente trat sie in panischer Furcht die Bremse durch, die Räder blockierten, Schlamm spritzte hoch auf, und die Vorderreifen rutschten in ein überschwappendes Schlagloch. Du blöde Gans, wütete es in ihrem Hirn, während die Muskeln an Armen und Beinen unkontrolliert zu zucken begannen. Was zur Hölle hast du eigentlich erwartet? Natürlich gibt es vor Pensionen Parkplätze und auf Parkplätzen Autos, wie sonst sollten in dieser Abgeschiedenheit die Gäste anreisen? Auch der Wirt wird wohl kaum die Vorräte mit dem Rucksack auf dem Buckel aus dem nächsten Dorf holen.
Aber die Ente...
Vor dem Gerichtsgebäude hatte am morgen eine Ente direkt hinter ihrem Fiat geparkt. Oder war es ein R4 gewesen? Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber die Panik wirbelte ihre Erinnerungsfetzen wie Treibholz über ein brausendes Wehr. Nein, kein R4, eine Ente, bestimmt eine Ente. Unsinn, ein R4, ganz sicher ein Renault und kein Citroën, und auch kein roter Wagen, sondern einer blauer. Oder ...
„Nein, nein, bitte nicht“, stieß sie schwer atmend hervor. „Richard! Richard, hilf mir!“
Beruhige dich, mein Liebling, es wird alles wieder gut. Vertrau mir.
I’m on your side ... Like a bridge over troubled water, I will lay me down.
Einen Moment lang schloss sie den Refrain summend die Augen, dann tastete ihr Fuß nach dem Gaspedal. Der Fiat holperte durch die Schlaglöcher, und das Scheinwerferlicht schwappte über die umlaufende Holzveranda der Pension hinweg die Hauswand hoch. Zwei Stockwerke hinter weiß getünchten Mauern, ein Dach mit gebleichten Ziegeln, ein Balkon in der ersten Etage, und auf der Veranda lange Tische und Holzbänke. Pension Odin stand unter der Dachtraufe quer über die Hauswand gemalt. Fünf, sechs Gästezimmer, mehr nicht, dachte Lydia erleichtert, dann parkte sie vorsichtig neben der Ente ein. Sie beugte sich zur Seite und zuckte entsetzt zurück. Gestreifte Sitzbezüge. Der Wagen vor dem Gerichtsgebäude hatte ebenfalls gestreifte Sitzbezüge gehabt. Natürlich, daran konnte sie sich genau erinnern. Gestreift! Grüngelb oder blaugelb, sie wusste es nicht mehr. Wieso auch sollte sie bei dieser panischen Flucht die hallenden Korridore entlang und die breite Außentreppe hinunter auf die Farbe der Streifen geachtet haben. Aber gestreift waren sie gewesen, ganz sicher gestreift.
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