Beim O von Odin war die Farbe verlaufen und schien vom großen Schild auf das kleine tropfen zu wollen, das an Nägeln und Ösen darunter hing. Zimmer frei . Der Pfeil neben Pension Odin wies in eine schmale Birnbaumallee hinein, die in einem Wald verschwand, der schwarz vor der untergehenden Sonne lag. Gegenüber dem Holzschild war ein Wegweiser für Wanderer an einen Birnbaum genagelt. Wettersteine, 9,5 km .
Sie biss sich auf die Lippen, gab vor, hart mit einer Entscheidung zu kämpfen, rang mit dem Für und Wider und wusste doch nur zu gut, dass sie am Ende ihrer Kräfte war, und die Umstände längst entschieden hatten. Sie stellte den Motor aus, stieg aufs Trittbrett und spähte über die Felder. Vor dem Wald glaubte sie, einen weißen Fleck auszumachen. Die Pension? Abgelegen am Waldrand und ohne Funkantenne auf dem Dach? War die Pension Odin ihre Rettung oder zumindest ein Unterschlupf für die kommende Nacht und das Hinweisschild der Wink einer mitleidigen Schicksalsgöttin?
Durfte sie es wagen?
Musste sie es nicht wagen?
Als sich das Toc-Toc-Toc in ihr Bewusstsein fraß, traf es sie völlig unvorbereitet. Der Schock durchzuckte sie wie ein Stromschlag, und ihr Körper bäumte sich auf in plötzlichem Wiedererkennen. Toc-Toc-Toc. Richard tastete sich mit seinem Blindenstock heran. Toc-Toc-Toc! Wo? Wo war er? Orientierungslos wirbelte sie herum, ihre Fingernägel kreischten über das kochende Blech des Wagendaches, und der vorbeidonnernde Sattelschlepper riss ihr den Schrei von den Lippen. Ein Sturm heißer Luft fegte sie vom Trittbrett, und sie stolperte blind in Staub und Flirren über den Asphalt. Wildes Gehupe ließ sie in Todesangst zurücktaumeln. Mit dem Hacken trat sie auf einen Stein, rutschte ab, knickte um und verlor das Gleichgewicht. Sie schaffte noch eine halbe Drehung, prallte gegen das Auto, lag plötzlich bäuchlings auf der Motorhaube des Fiats und verbrannte sich auf dem heißen Blech die Unterarme. Trotzdem blieb sie kraftlos liegen, suchte nur mit den Händen nach einem Halt, als die Knie unter ihr nachgaben, und bekam schließlich die kurze dicke Radioantenne zu fassen.
Nach einer Weile stemmte sie sich mühsam hoch, bis sie wieder auf ihren wackligen Beinen stand, die Antenne noch immer krampfhaft umklammert, und blickte über die Schulter zurück.
„Richard?“, schluchzte sie.
Doch die Straße war leer. Kein Richard, nicht einmal ein Auto für den Moment, und nur das kleine Holzschild Zimmer frei schwang in einer Abendbrise an seinen Ösen rhythmisch hin und her und klackte Toc-Toc-Toc gegen den morschen Holzpfahl. Unablässig Toc-Toc-Toc .
Langsam lösten sich ihre Finger. „Schluss! Schluss! Schluss!“ brüllte sie in hemmungsloser Verzweiflung und hämmerte mit der Faust wieder und wieder auf die Motorhaube ein. Das Schild, in seinem eigenen Rhythmus gefangen, klackte unbeirrt weiter. Erst der zunehmende Schmerz in der Hand und der Verkehr, der erneut hinter ihrem Rücken vorbeizurauschen begann, brachte sie wieder zur Besinnung. Keuchend rutschte sie auf den Fahrersitz und griff mit bebenden Fingern nach dem Zündschlüssel. Er wollte nicht anspringen, der Motor, und erst nach fünf, sechs oder sieben Versuchen gab er ihrem Schluchzen nach und röhrte gequält auf. In einer viel zu engen Kurve bog sie tränenblind in die Birnbaumallee ein, und nur ein gütiger Schutzengel verhinderte, dass sie mit dem Hinterrad in den unkrautüberwucherten Graben rutschte.
Sie versuchte, die Tränen aus den Augen zu blinzeln, fuhr sich mit dem Handrücken schluchzend und schluckend über die nassen Wangen und zuckelte die Landstraße hinunter. Verschwommen beobachtete sie im Rückspiegel den vorbeifließenden Verkehr auf der Bundesstraße, doch kein Wagen scherte aus der Schlange aus, um ihr zu folgen. Die Landstraße vor und hinter ihr blieb leer.
„Alles okay, Lydia. Ganz ruhig. Alles okay.“ Ihr Fuß auf dem Gaspedal zuckte unkontrolliert, der Fiat ruckte abgehackt voran.
In sanften Kurven durchschnitt die schmale Birnbaumallee erst von Sturm und Regen verwüstete Rapsfelder, dann Weiden mit wassergefüllten Senken. Pralleuterige Kühe starrten ihr großäugig nach, als sie vorüberfuhr, und nur das Zucken ihrer Ohren verriet Leben in der unbeweglichen Masse ihrer Leiber. Die knorrigen Birnbäume beidseits der Allee verwischten sich in der Entfernung zu dunklen, zackenkronigen Mauern, die den hellen Asphaltstreifen in ihrer Mitte rahmten, bis der Wald alles verschluckte.
Der weiße Fleck am Saum der Nadelbäume entpuppte sich als aufgelassenes Gehöft mit löchrigem Reetdach. Lydia bremste und stieg mutlos in ihrer Enttäuschung aus. Die Scheiben im Erdgeschoss waren eingeworfen, die ehemals grünen Fensterläden halb heruntergerissen, das Holz der Haustür splitternd eingetreten. Ein verrostetes Gartentor quietschte vom Wind genarrt in den Angeln und täuschte ein reges Kommen und Gehen vor. Geisterbesucher in beiden Richtungen und kein Abriss des Gästestroms zu erwarten. Die erste Etage des Hauses wirkte beinahe noch bewohnt, geblümte Vorhänge bauschten sich hinter den Zackenrändern der eingeworfenen Fensterscheiben. Im Hof verrotteten die Reste eines auseinandergerissenen Misthaufens, das Reetdach der Scheune war eingebrochen, und zwei nebeneinanderliegende Autoreifen auf der zerrissenen Plane der Rübenmiete waren schwarz verkrumpelt miteinander verschmolzen.
Auf dem Hof schlängelte sich eine lange Hundekette mit verrosteten Gliedern ausgedient durch den Staub.
Es stank nach verbranntem Gummi.
Kokelnde Dorfrowdies, dachte Lydia nervös. Ihre Beine zitterten noch immer. Sie suchte sich am Zaun abzustützen, doch er gab nach und neigte sich in Gänze hintenüber. Ein halbwegs kräftiger Ruck und er würde endgültig umkippen. Ein letztes Mal umfing ihr Blick das traurige Bild. Hatten die Bauersleute Zimmer vermietet und das Wohnhaus großspurig Pension Odin genannt, oder war diese Ruine tatsächlich nur ein reiner Bauernhof gewesen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Hinweisschilder die Existenz von irgendetwas längst nicht mehr Existentem vortäuschten. Postmortale Gedenktafeln dank träger Bürokratie. Den Gräbern vorangestellte Grabsteine, denen lediglich ein R.I.P. fehlte. Requiescat in pace. Ruhe in Frieden.
Pension Odin in roten Druckbuchstaben, wie von Kinderhand gemalt. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, woher es gekommen war, dieses flüchtige Gefühl drohender Gefahr beim Anblick des Holzschildes. Simon Rieger in roten Druckbuchstaben auf dem Querbalken eines schlichten Holzkreuzes. Rot und krakelig die Buchstaben, wie von ihm selbst geschrieben, aber da schlief er ja längst unter dem kahlen Hügel aufgeworfener Erde der Ewigkeit entgegen, und die Kränze moderten bereits im Abfall.
Seine Geisterhand aus dem Grab? War er zurückgekommen, sie zu strafen? Sie über den Tod hinaus zu tyrannisieren?
Sie schauderte zusammen und stakste steifbeinig zum Auto zurück. Die Lehne im Rücken gab ihr Sicherheit.
Den Zeigefinger schon auf der Einschalttaste des Radios ließ sie die Hand wieder sinken. Nein, kein Radio, keine Nachrichten: Die Fahndung nach der flüchtigen Lydia Vermeeeren ... Reiner Unsinn, Nonsens, sie wusste es genau. Die Polizei durfte es gar nicht wagen, sie mit ihren vorgeblich neuen und doch nur erlogenen Beweisen zu Simons Tod über öffentliche Medien suchen zu lassen. Nein, sie würden bestimmt erst versuchen, ihrer möglichst unauffällig habhaft zu werden, sie dann auf ein Revier schleppen und noch einmal mit ihrer Aussage gegen Moritz Rieger erpressen. Ihr Fotos des gebrochenen alten Mannes vor die Nase halten, dieses Polizisten, der zwei Wochen vor dem Anschlag mit der Feuerwerksrakete erst zweiunddreißig Jahre geworden war. Sie bearbeiten, ihr ins Gewissen reden und drohen, und erst, wenn sie sich weiterhin weigerte, Moritz Riegers Namen als den des Täters vor Gericht zu nennen, würde wer auch immer dem Staatsanwalt die gefälschten Beweise zuspielen. Der Polizei kam es in erster Linie darauf an, ihren Kollegen zu rächen.
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