Toc-Toc-Toc hin und Toc-Toc-Toc wieder zurück. Stundenlang. In jeder Nacht, die folgte.
Simons Tod war nicht ihre Schuld gewesen, das konnte sie beschwören. Das hatte sie vor Gericht geschworen. Annelie trug die Verantwortung für alles, was geschehen war.
Lydia schrak aus ihren Gedanken auf.
Etwas Helles raste im Rückspiegel mit Hupe und Lichthupe wie ein Geschoss auf den Fiat zu, und sie krallte sich am Lenkrad fest, als der Lieferwagen noch viel schneller als der Holländer, an ihr vorbeirauschte. Der Mann am Steuer riss den Kopf zur Seite, und sein Zeigefinger tippte sich an die Stirn, dann war er auch schon wieder hinter einer Kurve verschwunden. Ein alter Mercedes mit Anhänger, ein Diesel, folgte nicht ganz so schnell, ein Kleinbus, ein Motorrad, und alle Gesichter fuhren mit schimpfend aufgerissenen Mündern zu ihr herum.
„Nein, Richard, nicht!“
Sie verriss das Lenkrad, fuhr Schlenker, wollte die Hände auf die Ohren pressen vor dem Gehupe, den stummen Beschimpfungen, und ihre rastlosen Pupillen schweiften immer wieder von der Straße ab und im Wagen umher, als suchten sie nach einem Versteck. Sie huschten über den Tacho, glitten wieder zurück und saugten sich schließlich an der Anzeige fest. Irgendetwas stimmte da nicht. Vierzig? Wieso zeigte der Tacho nur vierzig Stundenkilometer an? Als das Begreifen einsetzte, langsam in ihr Gehirn sickerte, hätte sie kreischen mögen vor Erleichterung. Vierzig Stundenkilometer. Sie schlich tatsächlich mit nur vierzig Stundenkilometern über diese breite, gut ausgebaute Bundesstraße ohne Glatteis und Schlaglöcher. Ein hochschnellender Mittelfinger, das Gehupe, die aufgerissenen Mäuler, all das war doch kein Wunder bei ihrem Schneckentempo. Nichts hatte er gewusst, dieser Rüpel im LKW, gar nichts gewusst von Richard und Simon, und mit der obszönen Geste nur den Ärger abreagiert. Frau am Steuer, wird er gedacht haben, nicht anders als die beiden Polizisten vor der Ampel im Dorf. Alle würden es gedacht haben.
Lydia nahm den Fuß vom Gas und versuchte oben auf der Hügelkuppe vor einer lang gezogenen Kurve das Sportcoupé vorbeizuwinken, das an ihrer Stoßstange hing. Der Fahrer reagierte nicht, klebte einfach nur am Heck des Fiats, und durch den offenen Spalt des Fensters dröhnte das satte Röhren des Auspuffs an ihre Ohren. Wieder verkrampfte sie sich, beugte sich weit nach vorn über das Lenkrad, als könnten die paar Zentimeter mehr Abstand über Leben und Tod entscheiden. Ihr Herz hämmerte unerbittlich gegen die Rippen. War er derjenige welcher? Würde er sie in der nächsten Kurve rammen? Wollte er sie hetzen, bis sie von selbst die Kontrolle verlor? Geilte er sich an ihren Augen im Rückspiegel auf, die schwarz vor Angst aus dem kreidebleichen Gesicht starrten? Zählte er die Muttermale nach, ob es auch drei waren und sie die richtige Jagdbeute?
Ihr Fuß zuckte vom Gaspedal, und die Tachonadel fiel auf siebzig. Das gelbe Sportcoupé setzte zum Überholen an und verschwand aus ihrem Rückspiegel. Sie zwang sich, stur geradeaus zu blicken, als es neben ihr auftauchte und Meter um Meter auf gleicher Höhe blieb. Die Blicke des feisten Fahrers stachen wie Nadeln in ihr Gesicht. Er rief irgendetwas gegen den Fahrtwind an, aber da kurbelte sie auch schon das Seitenfenster hoch, wollte die Beschimpfungen nicht verstehen, wollte nicht hören müssen, wie er Mörderin rief oder Vergasen sollte man dich . Dann war er weg, der Sportwagen, nur noch ein gelber Fleck zwei Hügel weiter, und ihr Keuchen flaute langsam ab.
Sie beschleunigte wieder und kniff gegen das Flirren des Asphalts die Augen zusammen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und die verkrampften Arme schmerzten. Du kannst nicht weiter, dachte sie in Panik. So nicht. Du musst Schluss machen, anhalten für heute, dir ein Zimmer suchen. Am besten gleich, sofort, nur wo? Wohin willst du überhaupt? Weg vom Gericht und raus aus der Stadt? Sicher, das hast du geschafft, nur was jetzt? Wohin? In welchem Winkel des Weltalls findest du denn nun dein sicheres Versteck? Weit wirst du ohne Pass und Führerschein gar nicht kommen. Eine einzige Verkehrskontrolle, zufällig hineingeraten, und das war’s dann auch schon.
Der Polizist in Zivil hatte an demselben Abend ihren Personalausweis eingezogen, an dem er sie zwang, den Widerruf ihrer Zeugenaussage gegen Moritz Rieger zu zerreißen. Sie bekäme ihn nach der Verhandlung zurück, hatte er sie beschieden. Nur für den Fall, dass Sie vorhaben, plötzlich zu verreisen. Ihr Führerschein lag im Handschuhfach des Mercedes. Sie hatte ihn am Morgen dort vergessen, als sie in Elisabets Fiat umstieg und sich später, nach ihrer Flucht aus dem Gerichtsgebäude, nicht mehr getraut, ihn zu holen.
Aber das war auch egal, wenn sie bei einer Kontrolle gestoppt wurde, klappte mit oder ohne Papiere die Falle hinter ihr zu.
Auch die Polizei suchte nach Lydia Vermeeren.
Sie ließ den Rückspiegel nicht aus den Augen. Wie lange schon folgte ihr der grüne Lieferwagen?
Er überholte, und ihre zittrige Fahrt ging weiter.
Sie fuhr rauf und runter, rauf und wieder runter, eine Hügelwelle wie die andere, und nur die Richtung der sanften Kurven und die Farbe der vorbeiflitzenden Felder rechts und links wechselten. Zerzaustes Getreide in glutroter Abendsonne, ehemals mannshoher Mais, jetzt felderweise von den Unwettern des Spätsommers geknickt, graue Kartoffelstrünke, die aus dem schlammigen Rotbraun des aufgeweichten Bodens ragten. Darüber der sanft verschleierte Himmel, von der Sonnenglut rosa angehaucht, und mit Eisengewichten die schwüle Bruthitze auf die Erde pressend.
Sie durchfuhr zwei lang gezogene Straßendörfer mit weiteren hitzeschlappen Hunden vor Klinker und Fachwerk, mit biederen Vorgärten und Geranientrauben vor den Fenstern. Gasthöfe gab es keine, nur im zweiten Dorf ein halb verfallenes Gebäude am Ortsrand, von dessen Fassade der Schriftzug Zum Eber bröckelte. Fenster und Türen waren mit Brettern vernagelt.
Ein paar Kilometer weiter blieb ihr Blick an einem hübschen Fachwerkgehöft zwischen Feldern und Wiesen hängen. Weiß getünchte Wände von nachtschwarzen Balken gerahmt und durchkreuzt in wiederkehrendem Muster, offenbar mit Liebe zum Detail erst kürzlich restauriert. Ganz idyllisch gelegen mit der Pappelreihe zur linken und dem fast kreisrunden Teich inmitten der Wiese vor dem Hufeisen aus Wohnhaus, Scheune und Stall. Ein Bilderbuchbauernhof, wo der Bauer am Abend die Pfeife auf der Bank vor dem Haus schmauchte, und die rotbackige Bäuerin in der Küche Brot buk. Eine heile Welt mit lachenden Kindern und schnatternden Gänsen.
Sie atmete tief durch und lächelte, bis sie die Funkantenne auf dem Dach des Wohnhauses entdeckte. Ihre lächelnden Lippen verzerrten sich grotesk, ihr Atem setzte aus, sie rang nach Luft. Wieder krampfte die Panik, dieses pulsierende Krebsgeschwür, von der Monotonie des Rauf- und Runterfahrens vorübergehend eingelullt, ihren Magen zusammen. Sie riss das Lenkrad herum, der Fiat geriet außer Kontrolle, und ein entgegenkommender Wagen wich wild hupend auf den Seitenstreifen aus, als sie über die Mittellinie schleuderte. Sekunden, die sich zu Ewigkeiten dehnten, mit Bremsen und Gas geben, Schleudern und Gegenlenken, alles gleichzeitig und ohne Sinn und Verstand. Dann, ganz plötzlich, fuhr sie wieder geradeaus, auf ihrer eigenen Spur, und die Gefahr war gebannt.
Schweiß tropfte ihr vom Kinn, ihre weißknöcheligen Finger umklammerten das Lenkrad, und eine Reihe kurzer schwarzer Bremsspuren auf dem Asphalt hinter sich lassend, fuhr sie einfach weiter. Hügelauf und hügelab in einem Schock, der den Verstand ausgeschaltet hatte. Zehn oder zwanzig Kilometer später, mit starren Armen, die sich kaum beugen lassen wollten, lenkte sie den Fiat auf den Standstreifen und bremste vor einer hölzernen Hinweistafel auf schiefem Pfahl. Pension Odin, 3,5 km . In roten Druckbuchstaben wie von Kinderhand geschrieben. Die vage Erinnerung an etwas Unangenehmes schoss ihr durch den Kopf und verdichtete sich zu dem Gefühl einer Bedrohung. Sie starrte offenen Mundes auf die Buchstaben, doch das Gespenst ließ sich nicht materialisieren. In letzter Zeit nahm ihre Konzentrationsfähigkeit rapide ab.
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