Elsa von Redlingen heulte beim Zwiebelschneiden und tastete schnüffelnd nach ihrem Taschentuch in der Kitteltasche. Zwiebelfleisch mit frischen Kräutern, Knödel und zum Nachtisch selbst gemachte Rote Grütze mit Vanillesoße. Vorausgesetzt, Felix kam mit dem Fleisch vom Dorfmetzger rechtzeitig zurück. Wenn nicht, gab’s wohl nur Knödel mit Kräutern. Die Zeiger der Wandküchenuhr rückten zwar gerade erst auf halb sechs vor, aber im Aufenthaltsraum lauerten schon die beiden Neuankömmlinge und warfen gierige Blicke ins Esszimmer. Unruhig wie zwei hungrige Hyänen, die Aas rochen. Ein Student und seine Freundin von der Universität aus der Stadt. Sie wollten den Wald kartieren, und schon jetzt, nach ihrer ersten kurzen Erkundungstour durch den Moorsbacher Forst, zog sich eine Laub- und Nadelspur quer durch die Pension.
Im Moment steckten sie auf der Ottomane vor dem kalten Kamin die Köpfe zusammen, ihr kupferfarbener Lockenwust dicht an seinen zurückgekämmten braunen Haaren, die in einem albernen Pferdeschwanz endeten. Sie knackten Erdnüsse aus einer raschelnden Tüte und versuchten die Kerne mit aufgerissenen Mündern aus der Luft zu fangen. Die meisten plumpsten allerdings zu Boden. Elsa wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, beugte den Nacken, und beobachtete die Beiden missmutig durch die fenstergroße Durchreiche zum Esszimmer und die offenen Türflügel des Aufenthaltsraumes. Die Ottomane mit ihrer asymmetrisch geschwungenen Rückenlehne stand genau am Ende der Sichtachse. Elsa mochte die Frau nicht, schlimmer noch, sie konnte sie nicht ausstehen. Sie verkrampfte sich, sowie ihre Blicke sich kreuzten, ohne dass sie einen nachvollziehbaren Grund für diese spontane Abneigung zu nennen wusste. Die paar Erdnüsse konnten es wohl nicht sein. Vielleicht ihre ungenierte Selbstsicherheit? Der goldene Löffel, den sie so offensichtlich seit ihrer Geburt vor sich hertrug? Oder, dass sie keine drei Stunden nach ihrer Ankunft die Pension so schrankenlos in Besitz genommen hatte, als tobe sie daheim durchs eigene Wohnzimmer, wo Heerscharen von Dienstmädchen bereitstanden, ihr die Sachen hinterherzuräumen?
Ihr loses Mundwerk würde bestimmt die anderen Gäste einschüchtern. Hey, Jo, sei kein Arsch und mach mit. Elsa hatte den verlegenen Blick von ihm aufgefangen.
Zurzeit gab es allerdings keine anderen Gäste in der Pension Odin.
Sie würde Felix den Besen in die Hand drücken müssen, am Ende rutschte noch einer der Beiden auf den Nüssen aus und brach sich die Haxen. Sie stellte sich das Hohngelächter ihrer Versicherungsgesellschaft vor, wenn er oder sie mit Gipsbein Ansprüche erhob. Im Januar hatte sie die jährliche Haftpflicht nicht bezahlt. Nach der ersten Mahnung war keine weitere Zahlkarte mehr eingetrudelt, irgendein Sachbearbeiter musste geschlurt haben, und sie hatte sich wohlweislich gehütet, in der Zentrale anzurufen. Tut mir leid, aber momentan und auf absehbare Zeit bin ich pleite.
Er bückte sich wenigstens manchmal nach den Erdnüssen, sie kickte sie mit der Schuhspitze quer über das Parkett unter die wurmstichige Nussbaumvitrine. Elsa juckte es in den Fingern, der verzogenen Göre Manieren einzubläuen. Auf der anderen Seite beabsichtigten die Beiden, den Rest des Augustes und wahrscheinlich den gesamten September in der Pension zu wohnen, was die Bezahlung ausstehender Rechnungen bedeutete. Vielleicht sogar eine neue Haftpflichtversicherung. Dafür mussten sich wohl Nüsse auf dem Boden ertragen lassen. In zwei Wochen endeten die großen Ferien und mit ihnen dieser verkorkste Sommer, der eine multinationale Völkerwanderung an südliche Strände ausgelöst hatte. Schniefende Mitteleuropäer, die sich die Knochen für Herbst und Winter aufheizen wollten. Das heimische Hotel- und Gaststättengewerbe zwischen Hiddensee und Zugspitze jammerte lauthals über leere Kassen, während die Kanarischen Inseln unter den Menschenmassen beinahe versanken.
Seit zwei Tagen schüttete es wenigstens nicht mehr wie zu Noahs Zeiten, dafür drückte eine dumpfe Hitzeglocke aufs Hochland und auf die Gemüter. Schafe und Kühe machten sich die Schatten der wenigen Weidebäume streitig, und die Bauern schielten nur noch träge durch die Lamellen der Jalousien, wenn der Hofhund anschlug. Die Ernte hatte bereits ein gieriger Wettergott als Sühneopfer für was auch immer gefordert. Die paar aufrechten Ähren lohnten den Einsatz des Mähdreschers kaum. Im Tiefland standen ganze Felder unter Wasser, die Feuerwehr pumpte Keller aus, und Bundeswehrsoldaten stapelten Sandsäcke entlang der Flüsse. Jeden Abend brachten die Nachrichten neue Katastrophenmeldungen.
Mittlerweile küsste sich das Studentenpärchen auf der Ottomane hingebungsvoll, und es reizte Elsa, die Türen der Durchreiche mit einem nachdrücklichen Knall zu schließen.
Sie waren mit einem großen Extrakoffer voll wissenschaftlichem Krimskrams angereist, den der junge Mann ächzend und ganz allein die Treppe hatte hinaufhieven müssen, Stufe für Stufe, während ihn seine Freundin lachend in den Kniekehlen kitzelte. Als Elsa ihnen später Badetücher aufs Zimmer brachte, stapelten sich Berge von Büchern mit ihr unverständlichen Titeln auf dem Tisch gegenüber dem breiten Doppelbett. Überall auf dem Boden lagen Karten und Luftbilder verstreut. Elsa konnte sich nicht mehr darauf besinnen, was genau sie kartieren wollten im Moorsbacher Forst hinter der Pension. Bäume oder Schmetterlinge oder vielleicht Pilze, es hatte sie in diesem Moment nicht weiter interessiert, weil in ihrem Kopf schon die Rechenmaschine losratterte, während ihr der junge Mann noch eindringlich die Notwendigkeit einer längeren Einquartierung auseinandersetzte. Gerade so, als habe sie angeboten, die beiden kostenlos zu beherbergen, und er sähe sich verpflichtet, anstandshalber ein letztes Mal auf die möglichen Konsequenzen dieses Angebotes hinzuweisen. Sie hatte nur noch die Worte wissenschaftliches Projekt der Universität und wahnsinnig wichtig im Ohr.
Als ob die Erde einfach auf Nimmerwiedersehen verpufft, wenn niemand die Eichen im Wald, die Zitronenfalter auf den Rühr-mich-nicht-an oder die Kröten im Erlenbruch zählt, dachte Elsa mit beißendem Spott.
Für einen derartigen Kokolores, aus Bundesmitteln oder EU-Töpfen finanziert, durften sich kleine Leute wie sie also krummschuften, während ihr Kostenübernahmeantrag für die geplante Asphaltierung des Parkplatzes vor der Pension seit Monaten von einem Sachbearbeiter zum anderen weitergereicht wurde. Wenn er endlich in die Hände des Zuständigen geriet, würde er voraussichtlich bereits so abgegrabbelt sein, dass ihre Eintragungen niemand mehr entziffern konnte.
Wo nur Felix abblieb? Schon viertel vor sechs. Hoffentlich jagte er mit seinem Mountainbike nicht wieder freihändig über die schmale Birnbaumallee. Einmal hatte sie sogar beobachtet, wie er das Fahrrad am Lenker in die Höhe riss, dass es sich aufbäumte wie ein Lipizzaner zur Levade und beinahe einen Herzinfarkt gekriegt. Dieses verdammte Mountainbike. Wie hingehext stand es an Felix‘ Geburtstag im Juli plötzlich frühmorgens auf der Veranda. Direkt vor der Haustür. Geradewegs aus der Hölle aufgefahren, hatte sie im ersten Schock gedacht, als sie ungläubig die Klappkarte las, die an rotem Geschenkband vom Lenker baumelte: Papa liebt dich und ist sehr stolz auf seinen Felix. Herzlichen Glückwunsch. Kleine bunte Klebebuchstaben aus einem Bastelladen. Ihr war speiübel geworden, und sie musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht vor Grauen ihr Frühstück über den chromglänzenden Rahmen zu spucken. Als das Würgen nachließ, riss sie in unsäglicher Wut den Geschenkanhänger vom Lenker. Eben wollte sie das Mountainbike in den Kofferraum ihres Opels hieven, um es im finstersten Tümpel des Erlenbruchs zu versenken, als Felix auch schon jubelnd die Tür aufstieß und nach draußen stürzte. Die Klinke bohrte sich ihr in die Seite und schleuderte sie zurück. Um ein Haar wäre sie die Verandastufen hinuntergestürzt.
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