Zurzeit blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Fleisch und Wurst beim Dorfmetzger zu kaufen. Der rückwärtige Teil des Supermarktes, der ganze Thekenbereich mit den Frischwaren, war wegen Wasserrohrbruchs abgesperrt. Wände mussten aufgebohrt und neu verputzt, gewellte Bodenbeläge herausgerissen werden. Also bestellte sie telefonisch bei Metzger Schmidt mit seiner blutfleckigen bodenlangen weißen Schürze und dem gierigen Funkeln in seinen Schweinsäuglein und schickte den Jungen zum Abholen.
„Du, der Marder hat die olle Helene gekillt“, platzte Felix mit erregt blitzenden Augen heraus. „Der Kerl hat sich mal wieder durchgebuddelt.“ Dann rannte er auch schon durch die Küche und stieß die Tür zum hinteren Flur auf, von dem ihre Privaträume abzweigten. „Mama, die Simpsons kommen gleich. Kann ich bis zum Essen fernsehen?“ Es gab Wichtigeres im Leben als eine tote Henne.
„Meinetwegen, aber wasch dir vorher noch die Hände und weich dein Hemd im Waschbecken ein. Hol dir ein T-Shirt aus dem Schrank. Und um halb acht essen wir. Gleich nach den Gästen.“
„Okay.“
Diesmal also die gefleckte Helene, ihre beste Legehenne. Wenn sie demselben verfressenen Marder zum Opfer gefallen war, der die Küken in der Apfelsinenkiste zerrissen hatte, taugten ihre Überreste wohl nicht einmal mehr als Köder für Eddies Fallen. Jetzt blieben ihr nur noch zwei Legehennen, und die würden in den nächsten Tagen vor Aufregung bestimmt keine Eier legen. Sie blickte niedergeschlagen Felix nach. Seine unbekümmerte Nachlässigkeit ließ die Tür mal wieder offenstehen. Elsa stieß sie mit dem Fuß hart ins Schloss, als hinten der Fernseher losplärrte. Allerdings gab sie sich keineswegs der Illusion hin, ihren Sohn vor der Mattscheibe auch nur im Mindesten schuldbewusst aufzuschrecken.
Der Marder hatte in derselben Nacht die Küken geholt, in der sich Victor mit dem Mountainbike zur Pension schlich. Zwei tagscheue Räuber, die als konturlose Schatten durch die Dunkelheit huschten, weil sie unter der Sonne die Jäger fürchten mussten. Eddie hatte Fallen mit Fleisch bestückt, um den Marder zu erwischen. Bislang hatte er nur eine fette Ratte gefangen, die mit gebrochenem Genick und halb abgetrenntem Kopf unter dem zugeschnappten Eisen klemmte.
Die Sache mit dem Mountainbike war Mitte Juli gewesen, und je mehr Tage verstrichen, ohne dass sich Victor noch einmal in irgendeiner Form meldete, desto mehr wertete sie sein nächtliches Auftauchen ab. Nur ein einmaliger Besuch zum Geburtstag deines Sohnes, Elsa, vergiss es einfach und leb weiter.
Für ihre lächerliche Überreaktion am Tag eins des Mountainbikes schämte sie sich heute noch. Während Felix im Schulbus ganz hibbelig vor Freude der Stadt entgegengefahren war und es kaum erwarten konnte, zu seinem tollen Geschenk zurückzukommen, hatte sie sich in ihrem hilflosen Hass das Brotmesser aus der Schublade geschnappt, war in den Wald gerannt und hatte die Bäume mit Victors Namen angebrüllt.
Als sie die Fußabdrücke auf dem Weg entdeckte, hörte sie auf zu brüllen. Es hatte am Abend zuvor bis beinahe Mitternacht geregnet, so wie schon den ganzen elenden Sommer lang, und jede einzelne Riffelung der Sohlen war im Matsch so deutlich herausgemeißelt wie in frisch gefallenem Schnee. Sie starrte sie an wie vom Donner gerührt. Nicht, weil es Victors geriffelte Sohlen gewesen waren, sondern weil es einfach nicht in ihren Schädel ging, wie sie die Abdrücke von der Pension bis just zu dieser Stelle hatte übersehen können. Sie führten den Weg so deutlich rauf und wieder runter, als hätte er gewollt, dass sie ihnen folgte. Mit einem Mal kam sie sich albern vor mit dem gezückten Messer in der Hand und glaubte einen Wimpernschlag lang sogar von fern sein leises ansteckendes Lachen zu hören.
Komm schon Elsa, du willst doch nicht etwa Schneewittchen und die armen Zwerge erstechen.
Als sie den Spuren weiter nachging, erst auf dem Weg, dann quer durch den Fichtenwald mit seinem spärlichen Unterholz, verbarg sie die Hand mit dem Messer hinter ihrem Rücken. Tränenlos stolperte sie vorwärts, aber ihr trockenes Schluchzen begleitete den Morgengesang der Vögel in den hochgewachsenen schlanken Bäumen. Zweimal verlor sie die Spur, zweimal fand sie sie wieder, dann stolperte sie aus dem Wald heraus auf die schmale Landstraße, die sich wie ein mäandrierender Fluss durch den Moorsbacher Forst schlängelte. Auf ihrem unbefestigten Seitenstreifen ließen sich problemlos die Reifenabdrücke eines Wagens erkennen. Hier musste Victor geparkt haben.
Sie hatte sich vorgestellt, wie er das Mountainbike aus dem Kofferraum hob und es schulterte, um die glänzende Unberührtheit von Rahmen und Felgen zu erhalten. Sie hatte sich vorgestellt, wie das Licht seiner Taschenlampe in der finsteren Neumondnacht als hektisches Glühwürmchen zwischen den Bäumen herumzitterte, während ihm der Schweiß von der Stirn rann, als er das geschulterte Fahrrad den langen Weg zur Pension trug.
Ein Mountainbike, Papa, ich wünsch mir ein Mountainbike. Felix flehentliches Bitten, zwei Jahre zuvor.
Schließlich hatte sie das Messer voll Scham unter Fichtennadeln vergraben und war kleinmütig zur Pension zurückgeschlichen, den Rücken so krumm wie die verhutzelte Veitel mit ihrem Reisigbündel auf dem Buckel. Das Holzweiblein vom Kupferstich über dem Kamin. Zu Hause dann fand sie den alten, an den Hühnerstall angrenzenden Hundezwinger neben den Gemüsebeeten mit Kükenflaum gelb beschneit vor.
Ab und an brachte ihr der Geschäftsführer der Hähnchenfabrik nördlich vom Moorsbacher Forst eine Kiste Küken vorbei, die aufgrund kleinerer Verkrüppelungen nicht den Normen entsprachen. Dafür und für einen Zehner auf die Hand überließ sie ihm und der spillerigen Auszubildenden des Dorfmetzgers einmal in der Woche, am Ruhetag, für ein Schäferstündchen ein Gästezimmer, ohne es herumzutratschen. Immer mittwochs, wenn das Mädchen morgens zur Handelsschule in die Stadt musste und im Kühlraum hinter der Metzgerei keine Rinderhälften zu zerlegen brauchte. Dann gönnte sich auch der Geschäftsführer der Hähnchenfabrik einen freien Nachmittag und wartete in seinem BMW vor dem Schultor auf sie. Manchmal blieben die beiden nach ihrem Tête-à-Tête noch zum Abendessen, und sie ließ sie ebenso wie Eddie am Tisch der Feriengäste im separaten Esszimmer Platz nehmen und berechnete ihnen nicht den vollen Preis. Tagesgäste bediente sie in der Schankstube gleich neben der Haustür. Wanderer, die ausgehungert und rotwangig die Verandastufen hinauf stapften und Autofahrer, die nur auf eine Tasse Kaffee stoppten. Im Sommer stellte sie für Wandergruppen auch zwei lange Holztische mit Bänken auf die Veranda. Wer essen wollte, konnte von einer Karte mit einfachen Schnellgerichten wie Kartoffelsalat mit Würstchen, Folienkartoffeln mit Quark und Pilzomelett wählen. Manchmal kochte sie auch die Fleisch- und Gemüsereste der Woche zu herzhaften Eintöpfen zusammen, die sie portionsweise einfror und bei Bedarf in der Mikrowelle wieder auftaute.
Die Hälfte der meist schwachen oder missgebildeten Küken aus den Apfelsinenkisten ging nach wenigen Tagen ein, aber der Rest ließ sich aufziehen, und tranchiert oder als Frikassee fielen die Verkrüppelungen nicht mehr auf. Sie hatte sich nie ausgerechnet, ob es sie nicht billiger käme, tiefgefrorene Hähnchen aus dem Supermarkt zu kaufen. Seit sie denken konnte, hatten immer irgendwo Hühner in ihrer Nähe gescharrt und gegackert, und da sie ohnehin in der gemeinsamen Tourismusbroschüre des Landkreises für die Pension Odin mit stallfrischen Frühstückseiern warb und Legehennen hielt, war das Aufpäppeln der Hähnchenküken quasi ein Abwasch.
Sie schlappte in ihren Latschen lustlos durch den kleinen Gemüsegarten mit den im Schlamm verfaulten Kohlköpfen und den ertrunkenen Radieschen und starrte lange auf das Wirrwarr blutiger Federn hinunter, aus denen grotesk die beiden Krallenfüße der gefleckten Henne Helene herausragten. Vor und hinter dem Maschendraht war ein Loch neben aufgehäufelter Erde. Der Marder hatte tüchtig geschuftet, und diesmal sogar am hellen Tag. Demnächst würde er sich wahrscheinlich den Braten direkt aus dem Backofen stehlen. Elsa holte den Spaten mit dem abgebrochenen Stiel aus dem Schuppen neben dem Hühnerhaus und machte sich ans Aufräumen.
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