Er war wie sein Vater. Nicht zu bremsen in seiner Ungebärdigkeit und gedankenlos gegenüber denen, die er dabei unbedacht über den Haufen rannte.
Der Gedanke, dass sich Victor wieder in ihrer Nähe herumtrieb, hatte ihr in den ersten Tagen nach Felix‘ Geburtstag eine Höllenangst eingejagt. Sie fuhr bei jedem Geräusch zusammen, und wenn die Dielen im Korridor unter den Schritten der Gäste knarrten und ächzten, kitzelten panische Schreie ihre Kehle. Die Polizei fing gerade an, sich zu beruhigen. Die letzte Hausdurchsuchung, bei der Uniformierte ihre Waffen auf die Truhen und Schränke richteten und Rauskommen brüllten, lag mehr als vier Monate zurück. Ein Zeichen, so mutmaßte sie, dass die Fahndung nach den beiden flüchtigen Raubmördern endlich, endlich einschlief. Zumindest aber mangels neuer Hinweise erlahmte.
Der Überfall auf die Tankstelle. Victor, die Eisenstange, der Mann mit den Springerstiefeln ...
Bei der Kripo in der Stadt musste sie sich am Tag nach dem Überfall das Video der Überwachungskamera aus dem Verkaufsraum anzusehen. „Das da ist Ihr Mann. Victor“, hatten sie gesagt und auf den Mann mit der Skimaske gedeutet, der dem Tankwart vor der offenen Registrierkasse auf dem Tresen eine abgesägte Eisenstange über den Scheitel zog. „Und der da ist sein Kumpel. Nennen Sie uns seinen Namen.“ Und sie hatte in stummem Unglauben zugesehen, wie Victors Kumpel dem bewusstlosen Tankwart auf dem Boden mit seinen Springerstiefeln in den Leib trat, bis die Milz riss und die gesplitterten Rippen die Lunge durchbohrten. Sie stundenlang verhört worden, ohne in ihrer Betäubung und Ratlosigkeit auch nur einen einzigen Namen über die Lippen zu bringen. Victor, der Eigenbrötler, hatte einfach keine Freunde oder Kumpel gehabt. Sie konnte nur aussagen, er sei in den Tagen vor dem Unfall häufiger mit dem Wagen unterwegs gewesen und hilflos mit ansehen, wie sich die Tür des Vernehmungszimmers hinter ihrem damals elfjährigen Sohn schloss.
Der Tankwart starb an seinen inneren Blutungen, nicht unmittelbar am Schädelbruch. In guten Minuten konnte sie sich einreden, lediglich die Ehefrau eines Räubers zu sein, keine Mördergattin. In diesen Momenten rief sie sich das kurze Hochreißen von Victors rechtem Arm auf dem Video in Erinnerung, während er, mit dem Rücken zur Kamera, zusah, wie sein Kumpel wieder und wieder auf den zusammengekrümmten Tankwart eintrat. Dann malte sie sich aus, wie er mit dieser Geste das Morden zu stoppen suchte. Hör auf! Lass ihn an Leben! Niemand darf einen Menschen wie einen Wurm zertreten. Victor war kein Mörder. Mit der Eisenstange in der Hand hatte er beim Zuschlagen lediglich seine Kraft überschätzt, dem Tankwart doch nicht mit Absicht den Schädel eingeschlagen, sondern bestimmt nur ein paar Minuten zur Flucht herausschinden wollen, bevor die heulende Hetzjagd der Polizeisirenen einsetzte. Und an Tagen körperlicher und psychischer Ausgepumptheit, in Stunden, wo sie auf schmalen Grenzgraten balancierte, fühlte sie die gleichen Wellen zügellosen Verlangens und ohnmächtiger Wut über ihrem Kopf zusammenschlagen, die ihren Mann aus der heruntergekommen Pension und den Trümmern ihrer Ehe gespült hatten.
Nach der Vorführung des Tankstellenvideos und dem anschließenden Verhör war sie mit Victors altem Opel wieder nach Hause gefahren und hatte über der Toilettenschüssel gewürgt, bis sie sich in Krämpfen auf den kalten Badezimmerfliesen wand. Später war es das Lachen im Gesicht des Tankwartes, das durch ihre Albträume geisterte. Das spöttische Lachen, unmittelbar, bevor Victor ihn niederknüppelte, und dann die im Schock erstarrten lachenden Lippen, als sich der Mann mit eingeschlagenem Schädel bereits blutüberströmt am Boden krümmte. Dann die Explosion, mit der sein Kumpel aus der Lethargie erwachte, wie ein Rammbock nach vorn schoss und den Liegenden zu Tode trat.
Elsa wischte sich ungeduldig eine Haarsträhne aus der Stirn, fegte mit der Hand die Zwiebelhaut vom Hackbrett in den Mülleimer und verzog das Gesicht, als sie tränenblind nach einem Taschentuch suchte. Es gab Zeiten der Not, Wochen, wo sie und Felix quasi von der Hand in den Mund lebten. Als die Bank böse Mahnbriefe schrieb und die Telefongesellschaft mit Inkassofirmen drohte, träumte sie davon, das eines Nachts Victor eine Plastiktüte voll Hunderteuroscheinen auf der Türschwelle abstellte. Niemand außer ihr selbst würde das Blut auf den Scheinen sehen können. Und es färbte bestimmt nicht auf die nagelneuen Dachziegel ab, auf die Vorräte in der Speisekammer, die Winterklamotten oder den soliden Hühnerstall mit dem Betonboden, der die Legehennen nachts vor Marder und Fuchs schützen würde.
Auch Moral ließ sich kaufen, und an manchen Tagen kostete ihr Gewissen nur wenige Cent.
Statt des Geldes stand ein Mountainbike auf der Veranda.
Als sie anfing, die Zwiebeln zu dünsten, schloss sie die Läden vor der Durchreiche zum Esszimmer leise und stieß in der Küche die Tür zum Hinterhof auf. Im selben Moment fuhr sie mit einem erschrockenen Prusten zurück. Ihr Sohn stürmte über die Schwelle.
„Hallo Mama.“ Felix klatschte ihr nachlässig das zerdrückte Fleischpaket in die Hände und drängelte sich ungestüm an seiner Mutter vorbei, einen Ellenbogen in ihren Rippen. Sein weißes Hemd mit den kurzen Ärmeln war an einer Seite feucht und rötlich eingefärbt, und Fleischsaft tropfte durch das dicke rosa Einwickelpapier. Er musste sich das Paket beim Fahren unter den Arm geklemmt haben. Die Plastiktüte, die sie ihm mitgegeben hatte, beulte noch immer zusammengeprummelt seine Hosentasche aus. Elsa von Redlingen biss sich verärgert auf die Lippen, eine Hand auf den schmerzenden Rippen, die andere feucht vom Fleisch, und dachte plötzlich entsetzt: heute sein Ellenbogen, in ein paar Jahren eine Eisenstange. Weg da, ich komme!
„Ach Mensch, Felix ...“
Sie stoppte seufzend und blickte durch die offene Tür auf das schlammbespritzte Mountainbike. Die Dörfler zerrissen sich bestimmt schon die Mäuler darüber, woher das Geld für eine derart teure Anschaffung gekommen sein konnte. Vom Sozialamt und damit von ihnen, den Steuerzahlern? Wohl kaum aus der kläglichen Beute des Überfalls. Ging die Wirtin vielleicht nebenbei anschaffen? Stahl der Bengel etwa schon nach Papas Vorbild?
Aus verseuchter Erde keimt verseuchtes Korn.
Nach dem Überfall auf die Tankstelle strichen tagelang Einheimische und durch die Medien aufgehetzte Fremde durch den Wald, die sich keineswegs für die örtlichen Sehenswürdigkeiten - die Wettersteine oder den Hexenhain - interessierten. Sie umkreisten in immer engeren Spiralen die Pension, in der Hoffnung, einen Blick auf die Frau des brutalen Raubmörders zu werfen. Oder auf seinen Sohn, den armen Knirps, der sicherlich schon prüfend seine Füße neben die Fußstapfen des Vaters hielt. Der guckt so verschlagen. In den Monaten danach begannen die Gerüchte zu kursieren. Felix und sie hielten Kontakt zu den Flüchtigen. Felix und sie trügen körbeweise Lebensmittel zu dem Versteck der Männer im Wald. Felix und sie verbargen die Beiden im Keller, im Schuppen, im Hühnerstall und wo auch immer. Und bei jedem neuen Gerücht hämmerten noch vor dem Morgengrauen Polizisten an die Pensionstür und zielten auf Truhen und Schränke.
Es war Elsa nicht entgangen, dass die Dörfler hinter ihrem Rücken von der Mörderpension sprachen, und bei ihrem Anblick wohlig erschauerten, als wabere ein blutroter Abglanz der beiden Mordbuben um ihre Gestalt. Ein Grund mehr, den ohnehin überteuerten Kramladen und den Metzger im Dorf an der Bundesstraße zu meiden. In Notfällen, wenn sich kurzfristig Wandergruppen ankündigten und die Zeit für den Supermarkt in der Kleinstadt zu knapp wurde, oder wenn ihre zunehmende Vergesslichkeit wieder zuschlug, schickte sie feigerweise Felix ins Dorf, weil die Lästerzungen vor seinem schmalen angespannten Gesicht mit den Sommersprossen meist verstummten. Aber sie hasste sich dafür, und manchmal bedrängte sie sogar die Furcht, er könne sich vielleicht in seiner Berühmtheit als Sohn eines Raubmörders gefallen.
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