Die Sonne stach ihr auf den gebeugten Nacken, und einen Moment lang hielt sie inne und wandte sich kopfschüttelnd zum Außenthermometer an der Hauswand um. Sechs Uhr abends, und die rote Quecksilbersäule weigerte sich zu sinken. Schwüle Hundstage. Auf der Fahrt zum Postamt am Morgen hatte sie eine Weile am Rand der Landstraße geparkt, sich nervös die kribbelnde Haut ihrer Arme gerieben und den flackernden Widerschein eines Wetterleuchtens unter dem tintenschwarzen Wolkengebirge über der Ebene beobachtet, ein beängstigendes kreuz und quer stummer Blitze.
Der Wald hinter Hühnerstall und Schuppen dampfte wie ein monströser Kondensator die Feuchte des Sommers zwischen Kiefern und Fichten aus, und sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und dachte an Gewitterstürme, entwurzelte Bäume und unbezahlte Versicherungen.
Als eine Stunde später ein Mähdrescher den Verkehr auf der Bundesstraße staute und ihren Feldweg anblinkte, fuhr Lydia Vermeeren weiter, die Lippen bebend vor Erleichterung, der pochende Schmerz im zerschlagenen Oberschenkel eine Warnung vor künftigen Torheiten. Ihre übersteigerte Fantasie hatte sie Polizeisirenen und das Klicken von Handschellen hören lassen, wo es nur ein stetes Vorbeirauschen des Verkehrs und ab und an das Rattern eines Güterzuges auf der Bahntrasse jenseits der Felder gab. Als ob die Polizei jede Autofahrerin überprüfte, die beim Umspringen einer Ampel von rot auf grün zwei Sekunden zu spät losfuhr und angehupt werden musste. Und was war sie wohl in den Augen der beiden Polizisten Bedeutenderes gewesen als Frau am Steuer, die mit angezogener Handbremse ihren Fiat zum Hoppeln brachte.
Sie lächelte und trällerte nervös ein Liedchen, als von der Seite ein riesiger Schatten über sie fiel, und ein holländischer Blumentransporter, blökend wie ein Monsterschaf, an ihrem Fenster vorbeidonnerte. Sie schrie auf, verkrampfte sich mit weißen Lippen und starrte auf den behaarten Arm, der lang aus dem Beifahrerfenster schnellte und auf den Mittelfinger, der unvermutet aus der Faust hochschoss. Ein letztes lang gezogenes Blöken, dann tauchte der Laster hinter dem nächsten Hügel ab, und Lydia hielt im Weiterfahren das Lenkrad umklammert. Ihr Blick verlor sich in der flirrenden Hitze hinter der Windschutzscheibe.
Die Jagd war eröffnet, das Halali geblasen. Die Hundemeute hetzte sie schon.
Dieser Holländer hatte gehofft, sie käme vor Schreck von der Straße ab und überschlüge sich auf irgendeinem dieser Felder zu einem blutenden Klumpen Blech. Anschleichen, Vorbeidonnern, Hupen, und dann der hochgereckte Finger als letzter Gruß der Verachtung. Ihre Zähne begannen aufeinanderzuschlagen, während sie nach Fassung rang.
Ruhig, Lydia, ganz ruhig, nichts passiert.
Seine Hoffnung hatte ihn getrogen, sie lag nicht sterbend im Mais. Er würde das Kopfgeld nicht kassieren können. Aber was, wenn er ihr ein zweites Mal auflauerte? Ein drittes, ein viertes Mal, immer und immer wieder, bis ihr Körper zerquetscht zwischen Sitz und Lenkrad klemmte? Hinter dem nächsten Hügel, der Kurve da vorn oder auf der Autobahn? Oder griff er vielleicht eben zum Funkgerät, um seine Kollegen auf sie zu hetzen?
Scheiße, hab‘ die Kindsmörderin knapp verfehlt. Schnappt ihr sie euch, Jungs.
Jeder Amateurfunker im Land kannte doch längst ihre Beschreibung. Es gab mit Sicherheit auch unter Lastwagenfahrern Amateurfunker, die in ihrer Freizeit zu Hause ihrem Hobby nachgingen. Fahrer, die sich während der langen Überlandfahrten mit ihren Kollegen über CB-Funk unterhielten. Neuigkeiten der Straße austauschten. Da hat gestern Abend so’n armer Krüppel ein Kopfgeld auf die Mörderin seines Sohnes ausgesetzt. Braucht einer von euch Kollegen vielleicht Geld? Je mehr Hunde, desto sicherer des Hasen Tod. Die Schneeflocke war längst zu einer bergab donnernden Lawine angeschwollen, deren Lauf sich nicht mehr stoppen ließ. Sie würde sie unbarmherzig überrollen und zu einem Brei aus Fleisch und Knochen zermalmen, es sei denn, sie fand irgendwo ein sicheres Versteck. Ein Loch, sich zu verkriechen. Fragte sich nur wo. In einem Gebirge auf dem Meeresgrund? Auf einem unbekannten Planeten am Rand des Universums? In den eisigen Höhen des Himalajas?
Lydia lachte zittrig auf. Himalaja! Sie konnte froh sein, wenn sie die Fahrt ins nächste Dorf überlebte. Und dann, was kam dann? Irgendwo, irgendwann würde sie aussteigen und riskieren müssen, dass sofort der Finger irgendeines kleinen Görs an der Hand seiner Mutter auf sie zeigte. Mami, da ist die Frau mit den Flecken im Gesicht . Drei kleine sternförmige Muttermale auf Schläfe und Wange, die sich nicht einfach wegretouschieren ließen wie unerwünschte Falten auf einem Foto. Nicht einmal mit viel Schminke. In den kribbeligen Jahren der Pubertät war sie beinahe an ihnen verzweifelt, bis sie verdutzt herausfand, dass Männer diese kleinen sternförmigen Muttermale niedlich, ja, sogar sexy fanden. Richard pflegte sie seine Glückssterne zu nennen, die es einzeln zu küssen galt, sobald er wichtige geschäftliche Entscheidungen in der Werbeagentur fällen musste oder Aktien an der Börse kaufen wollte.
Jetzt würden sie die Muttermale verraten.
Sie linste in den Rückspiegel und wandte den Kopf ein wenig zur Seite. Die schwarzen Sterne leuchteten ihr drohend aus der Blässe entgegen. Ob der Holländer sie von dort oben aus seinem Führerhaus über dem Dach des Fiat hatte erkennen können? Sie spähte prüfend aus dem Fenster in den Himmel. Nein, unwahrscheinlich. Der steile Winkel, die falsche Wange.
Das Autokennzeichen, dachte sie plötzlich erschrocken. Was wenn Richard dich schon seit dem Morgen beschatten lässt und längst weiß, dass du Elisabeths Fiat fährst?
Natürlich, das war’s. Er hatte sich doch bestimmt vergewissern wollen, ob sie wirklich bei Gericht erschien, um gegen seinen Neffen Moritz auszusagen. Vielleicht ein Privatdetektiv, der ihr in der Stadt nachgefahren war, von ihrem Haus zu Elisabeths Wohnung und dann, später, bis vor das Gerichtsgebäude. Und nun trugen ihr die unsichtbaren Wellen der Funkantenne das Autokennzeichen von Dorf zu Dorf voran.
Die Mörderin fährt einen weißen Fiat mit dem Kennzeichen ... Blond, etwa eins siebzig und drei sternförmige Muttermale auf rechter Wange und Schläfe ...
Sie sah Richard sich über das Mikrofon beugen, sie hörte seine leise, einschmeichelnde Stimme, während seine leeren Augenhöhlen über die Funkanlage hinweg die Wand anstarrten. Bringt sie um! Bringt sie um! Bringt sie um! Drei Worte nur, aber von der sechs Meter hohen Stabantenne auf dem Dach seines Hauses in alle vier Himmelsrichtungen gebrüllt. Die tödliche Nadel eines Riesen in den Händen eines blinden und verblendeten Krüppels. In den Sommernächten, bei offenem Fenster, hatte sie manchmal sogar geglaubt, ihr geschäftiges Sirren zu hören. Drei verschiedenfarbige Kabel hingen vom Dach herab, von Klemmen zusammengehalten, und führten im Erdgeschoss durch eine Außenwandbohrung in den Raum neben der Küche. Jetzt Richards Zimmer, früher Annelies Hauswirtschaftsraum mit der Waschmaschine, der Mangel, den Wäscheleinen von Wand zu Wand, und der Riesengefriertruhe, die einen ganzen Stier zu fassen schien.
„Es war nicht meine Schuld, Richard“, flüsterte sie verzweifelt. „Ganz bestimmt nicht. Oh Liebling, bitte ...“
Kurz vor seiner Rückkehr aus der Reha-Klinik hatte sie die Handwerker im Raum hämmern und bohren hören. Zwei Tage nach seinem Einzug, als sie abends von einem Besuch bei ihrer Cousine zurückkam, stach die Funkantenne plötzlich in den Himmel. Noch in derselben Nacht tastete sich Richard zum ersten Mal mit dem unermüdlichen Toc-Toc-Toc seines Blindenstockes auf dem Asphalt unter ihrem Schlafzimmerfenster die kurze Straße hoch und wieder runter, das Fehlen der Augäpfel hinter schwarzen Brillengläsern mit seitlichem Rand verborgen.
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