1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Elsa schüttelte unter dem lauernden Blick ein wenig unbehaglich den Kopf. Als hätte die Frau ihr Unbehagen gespürt, drehte sie rasch ihr Gesicht weg und betrachtete den gestickten Großvaterkopf an der Wand. Gobelin, weißhaarig, mit Pfeife und im Goldrahmen. Die nächtliche Arbeit ruheloser Hände und aufgewühlter Nerven. Elsa beobachtete, wie sich die verkrampften Züge der Frau glätteten, als sie ihr Kopfschütteln noch mit einem lauten Nein bekräftigte.
„Wenn Sie Ihr Gepäck holen wollen, bringe ich Sie aufs Zimmer.“ Elsa zögerte, ehe sie sich widerwillig zu einem Angebot aufraffte. „Haben Sie überhaupt schon etwas gegessen? Wenn nicht, könnte ich Ihnen noch eine Kleinigkeit herrichten. Das Frühstück morgen früh ist übrigens im Übernachtungspreis inbegriffen.“
„Nein, nein, lassen Sie nur, ich habe unterwegs in einem Dorfgasthof eine Rast eingelegt und bin noch nicht wieder hungrig“, erwiderte die Frau hastig und stand nun ebenfalls auf. Elsa war ihr dankbar für die Lüge.
„O Gott, Entschuldigung, ich glaube, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Lydia Ver ... Wondraschek.“ Lydia verschränkte die Arme und kniff sich fest in den Oberarm, während sie zu lächeln versuchte. Du blöde Kuh, du dumme Nuss. Häng dir doch gleich ein Schild um den Hals. Hier steht Lydia Vermeeren. Zwei Euro pro Schuss, wer das Herz trifft, kriegt die Prämie.
„Elsa von Redlingen.“ Elsa begnügte sich mit einem kurzen höflichen Auseinanderziehen der Lippen und betrachtete verwundert die Frau mit den verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen und Knien. Eine so abwehrende Körperhaltung, als befürchte sie eine Leibesvisitation. „Sie sollten vor dem Schlafengehen ein heißes Bad nehmen, es entspannt die Muskeln. Wir haben auf den Zimmern zwar nur Duschen, aber am Ende des Flurs gibt es noch das alte Etagenbad mit der großen Badewanne. Ich gehe rasch den Boiler einschalten, und wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen nach dem Bad auch gern ein Glas heiße Milch mit Honig aufs Zimmer. Sie werden danach wunderbar schlafen können.“
Lügnerin, dachte sie voll Hohn. Jede zweite Nacht sitzt du trotz deiner Honigmilch am Fenster und starrst schlaflos in die Nacht.
Die Frau musterte sie so misstrauisch, als dächte sie eben dasselbe.
Die bläulichen Schatten der Schlaflosigkeit und die tiefe Sorgenfalte auf der Nasenwurzel ließen sich wohl nicht übersehen. Wenn Felix nicht wäre, hätte sie vielleicht schon einen Stuhl unter ihren Füßen weggetreten. Manchmal, in den tiefen Tälern ihrer wiederkehrenden Depressionen, bedauerte sie, es nicht trotzdem getan zu haben.
„Nein, das ist lieb von Ihnen, aber danke, ich ... ich vertrage keine Milch, jedenfalls keine heiße. Ich werde einfach nur duschen und dann ins Bett gehen, aber da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen wollte. Wegen meines Heulens eben, großer Gott, so etwas ist mir seit Jahren nicht widerfahren, und ich sollte es wohl besser erklären. Also, mir ist im Wald kein wilder Mann begegnet.“ Sie lachte nervös auf. „Nur ein Reh, wissen Sie, ich fuhr gerade um eine Kurve, als dieses Reh mitten auf der Straße stand. Es stand einfach nur da und starrte mit großen Augen in die Scheinwerfer, und ... und ...“ Sie wusste nicht mehr weiter und brach mit einer hilflosen Handbewegung ab.
„Haben Sie es angefahren?“, fragte Elsa von Redlingen rasch. Wenn der Straßenbelag blutig war, würden früher oder später Jäger den Wald nach verletztem Wild durchkämmen und vielleicht auf Victor und seinen Kumpel stoßen, falls die Beiden dort draußen noch irgendwo herumliefen. Der Wald rings um die Pension gehörte zu einem entfernten Gut, und der Gutsherr tanzte nur ein - oder zweimal pro Jahr mit einer großen Jagdgesellschaft an, um von den wenigen Anständen aus den Wildbestand zu dezimieren. Nur das allernötigste an Rotwild, Wildschweinen, Hasen und Füchsen. Der Forst wurde auch nur stellenweise mit Holzeinschlag bewirtschaftet, große Teile wuchsen sich, seit einem Vierteljahrhundert mehr oder minder den Launen der Natur überlassen, zu einem malerischen Urwald aus. Der Berg mit den Wettersteinen, einem altgermanischen Kultplatz mit großen bearbeiteten Findlingssteinen in unterschiedlicher Anordnung, war bereits als Naturschutzgebiet ausgewiesen.
Obgleich die Jagdgesellschaft nur wenige Tage und Nächte im Jahr den Wald durchstreifte, war sie jedesmal einem Nervenzusammenbruch nahe. Selbst als ihr Verstand Victor und seinen Kumpel nach dem Überfall in sicherer Entfernung von der Pension wähnte, fürchtete sie sich vor dem Augenblick, wo man ihr die Beiden erschossen ins Haus trug. Oder schlimmer noch, erschlagene Jäger, deren Weg sie zufällig gekreuzt hatten.
Was, wenn Victors Auftauchen zum Geburtstag seines Sohnes doch nicht nur eine Stippvisite gewesen war? Kein Hallo, ich wollte nur mal eben ... sondern ein Hallo, da bin ich wieder ?
„Haben Sie das Reh angefahren?“, fragte sie noch einmal, ohne die Ungeduld in ihrer Stimme mäßigen zu können.
„Nein, dem Himmel sei Dank nicht, aber mein Wagen schlingerte nur um Haaresbreite an dem Tier vorbei. Einen Moment lang dachte ich, gleich krachst du gegen den Baum, Lydia, aber wie durch ein Wunder kam ich zum Stehen, und nichts war passiert.“ Lydia rang mühsam nach Luft und lauerte unter gesenkten Wimpern hervor auf die Reaktion der Frau mit dem adligen Namen und dem dunklen Haar. Sie trug es geflochten und am Hinterkopf hochgesteckt, und hier und da stahl sich schon ein weißes Fädchen dazwischen. Schluckte sie die Geschichte? Wie alt mochte sie überhaupt sein? Fünfunddreißig? Oder Vierzig? Auf jeden Fall eine vom Leben desillusionierte Frau. Die Mundwinkel verbittert nach unten gezogen, eine steile Falte auf der Stirn und die Schatten derselben Schlaflosigkeit unter den Augen, die auch sie selbst mit Puder und Cremes zu verdecken suchte wie Kainsmale ihrer Schuld.
Elsa nickte erleichtert. Kein verletztes Reh, keine Vergewaltigung und offenbar auch keine dem Irrenhaus entsprungene Verrückte. Nur ein nachträglicher Schock, der sich ein wenig heftig für den Anlass gelöst hatte. Die heiße Milch würde wohl doch helfen, aber wenn die Frau nicht wollte, dann auch gut. Es war kurz vor zehn, sie spürte die Nässe des Sommers in den Knochen, und der Schmerz aus ihrer kaputten Bandscheibe zog die ganze Wirbelsäule hoch. Wenigstens hinlegen und ausstrecken können, auch wenn der Schlaf meist erst weit nach Mitternacht kam.
Hatte Felix nun das Esszimmer gefegt und den Müll auf dem Kompost gebracht? Wenn ja, dann erfreulich leise. Normalerweise ließ sie ihn nur herumfuhrwerken, wenn die Gäste außer Haus waren. Bei seinem Geklapper, Geschepper und Gerumse konnte sich niemand entspannen. Schon gar nicht schlafen. Während die Frau durch den Flur auf die Haustür zuging, und die Dielen unter ihren Füßen knarrten, warf sie einen prüfenden Blick ins Esszimmer. Sie schüttelte in müder Ergebung den Kopf. Er hatte gefegt, o ja, aber wie immer nur außen um Tisch und Stühle herum, während die Krümel unter der Tischplatte interessante Muster aufs Parkett malten. Diese verdammte Gedankenlosigkeit. Er leerte den Müll aus, ohne hinterher den Eimer auszuwaschen. Er putzte das Mountainbike und vergaß die dreckigen Lappen mitten auf der Veranda. Ab und an ließ sie ihn sogar die Gästezimmer saugen, aber wenn sie später nachfragte, warum der große Fussel noch immer vor dem Bett von Soundso lag, gab er wahrheitsgemäß zur Auskunft, der Staubsauger habe ihn nicht aufsaugen wollen, eben weil er so groß war. Sich zu bücken, fiel ihm nicht ein.
Über ihrem Kopf hörte sie Johannes Lindströms schwere Schritte auf dem Holzboden, und einen Moment lang horchte sie ganz neidisch. Seine Freundin Alice würde bereits im Bett liegen und ihm lächelnd beim Ausziehen zusehen und dann ... Die reinsten Kinder noch. Albern, ohne Verantwortung und offensichtlich auf der Sonnenseite des Lebens geboren. Erst jetzt fiel ihr die Doppelbödigkeit der Worte auf dich wartet noch Arbeit auf, und ihre Naivität schockte sie.
Читать дальше