Wenn eins ihrer Szenarien der Wirklichkeit entsprach, wenn Felix tatsächlich einen schweren Unfall verursacht hatte...
Sie dachte unwillkürlich an das Gift für die Köder, das sie im letzten Jahr angeschafft hatte, nachdem ein tollwütiger Fuchs über den Parkplatz getorkelt war. Eddie hatte mit der stumpfen Seite der Axt auf ihn eingeschlagen, bis er sich nicht mehr rührte und sein Hirn am Eisen klebte. Er hatte ihn heimlich totgeschlagen und danach vergiftete Köder ausgelegt, ohne das Forstamt zu informieren.
Zwei Monate lang packte er alle verendeten Tiere in blaue Müllsäcke und entsorgte sie irgendwo klammheimlich. Füchse waren nur zwei dabei gewesen, und dann fraß auch noch der Dackel eines Gastes einen der Köder. Sie fand ihn morgens tot unter der Verandatreppe, und er sah nicht aus, als sei er leicht gestorben. Sein Herrchen blieb noch eine ganze Woche, nachdem sie den Dackel im Wald begraben hatte. Er suchte nach ihm, und als er endlich unter Tränen abfuhr, hätte sie gern von sich behauptet, der Anblick des verzweifelten alten Mannes habe ihr das Herz zerrissen, aber das stimmte einfach nicht. Sie hätte ihn schon Tage vorher aus dem Haus prügeln mögen aus Furcht, er könnte das Grab des Dackels finden. Als er abfuhr, holte sie den Jägermeister aus dem Schrank und trank, bis sie sich erbrach.
In ihrer grenzenlosen Verzweiflung unmittelbar nach dem Überfall war ihr Selbstmord oft genug als einziger Ausweg erschienen. Für immer die Augen schließen dürfen vor den Schlagzeilen, den Polizeiverhören und Felix‘ wortlosem Entsetzen. Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, was sie von dem letzten Schritt abgehalten hatte, ihre Angst, die Verantwortung für ihren Sohn oder einfach nur die Zeit, die seltsamerweise nicht den Atem anhielt, und das im Leben Ausharren von Tag zu Tag erträglicher machte.
„Wie ... wieso bist du gestürzt? Ich meine, wie kam es dazu? Wo war das, im Wald oder auf der Landstraße?“
Felix presste die Lippen zusammen und schwieg.
Ein rascher Griff über den Tisch, und Elsa zwang sein Kinn in die Höhe, zwang ihren Sohn sie anzusehen und schrak vor der Feindschaft in seinem Blick zurück.
„Wo, Felix?“, fragte sie heiser. „Ich will wissen, wo du gestürzt bist? Es war auf der Allee, ja?“
In ihren Selbstmordfantasien hatte sie sich immer vorgestellt, wie sie und Felix auf dem Bett zusammen kuschelten. Wie sie ihm dann Geschichten erzählte und ihn fest im Arm hielt, wenn er in die andere Welt hinüberglitt, um dort auf sie, auf seine Mutter zu warten.
„Du tust mir weh.“ Das Bemühen um Beherrschung in Felix Stimme rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie lockerte erschrocken den Griff, ließ sein Kinn los und strich ihm die nassen Haare aus der Stirn. Er wandte den Kopf ab.
„Komm schon, mein Junge, sag mir, was passiert ist. Bitte! Es tut mir sehr leid, ich wollte dir nicht wehtun.“ Zu ihrer eigenen Verachtung hörte sie sich am Ende ihrer Kraft herzzerreißend flehen, und sein Kopf, der sich wieder über den Teller senkte, ruckte hoch. Er blickte auf, die Feindschaft noch in den Augen, aber schon mit bebenden Lippen. Elsa gelang es nur mit Mühe, der Mischung aus Abwehr und Verstörung in seinem Blick standzuhalten. Sie suchte nach ihrer Liebe für diesen kleinen Jungen, der doch nichts dafür konnte, der nicht die Eisenstange geschwungen und nicht den Tankwart zu Tode getreten hatte.
Nichts als Gereiztheit stieg in ihr auf.
„Hör auf mich so komisch anzusehen. Dazu hast du kein Recht. Also war es ein Unfall auf der Straße, ja oder nein?“
Felix schüttelte langsam den Kopf, und als er sprach, zitterte seine Stimme vor Angst und Wut und unter der Last der hasserfüllten Anklage in seinen Augen.
„Nein!“ stieß er heftig hervor. „Nicht auf der Landstraße. Ich bin nicht auf der Landstraße gestürzt. Es war im Wald. Plötzlich - plötzlich stand dieser Mann da zwischen den Bäumen, der Mann mit dem rot karierten Hemd. Und da bin ich mit dem Vorderrad irgendwo an ’ner Baumwurzel oder so abgerutscht.“
„Ein Mann?“ Elsa überlief es eiskalt. „Was für ein Mann? Kanntest du ihn? Hast du ihn hier in der Gegend schon einmal gesehen?“
Der Junge schluckte, eine Träne lief ihm über die Wange, und Elsa streckte automatisch die Hand aus, hielt ihren Lauf auf und strich sie mit dem Daumen fort. Was für weiche Haut er hatte, ihr Junge.
„Was für ein Mann?“, fragte sie noch einmal, aber diesmal tonlos, denn sie konnte ihm die Antwort vom verstörten Gesicht ablesen.
„Papa. Es war Papa!“
Lange Zeit saßen sie sich stumm gegenüber. Felix zog geräuschvoll die Nase hoch, und Elsa wühlte in der Kitteltasche nach einem Taschentuch und reichte es ihm wortlos über den Tisch. Komisch, dachte sie, ich sollte geschockt sein, dem Jungen widersprechen oder ihn anbrüllen, den Mund zu halten und nicht so schamlos zu lügen. Ihm mit Logik kommen: hör zu, Felix, wenn sich dein nichtsnutziger Vater tatsächlich wieder in der Gegend herumtreibt, dann aber doch nicht in dem rot karierten Flanellhemd vom Überfall. Rot kariertes Flanellhemd unter schwarzer Lederjacke, beige Cordhosen, leichte Wanderschuhe, Skimaske mit Sehschlitzen. In der Tagesschau war sogar ein Foto von ihm eingeblendet worden. Hinweise auf den Aufenthaltsort des flüchtigen Raubmörders Victor von Redlingen werden unter der Telefonnummer Soundso entgegengenommen. Victor, der Pechvogel. Irgendwann im Verlauf des Überfalls war ihm die glatte Chipkarte der Stadtbücherei aus der Hosentasche gerutscht. Vielleicht beim Ausholen mit der Eisenstange, vielleicht später bei der überhasteten Flucht der beiden. Auf der Vorderseite stand seine Mitgliedsnummer, hinten die schwungvolle Unterschrift: Victor von Redlingen. Die Leute im Dorf hatten ihn manchmal respektvoll mit Herr Baron angeredet, woraufhin er sich gewöhnlich um eine aristokratische Körperhaltung mühte, während sie verzweifelt mit dem Lachen kämpfte. Von Haus aus hieß er schlicht Victor Spode, mit c und nicht mit k. Im letzten großen Streit hatte sie ihn angefaucht, er habe sie ohnehin nur geheiratet, um den Herrn Baron spielen zu dürfen.
Darf’s ein Kotelett mehr sein, Herr Baron?
Victor, der in der Welt von heute auf morgen ein Wer und kein Niemand mehr sein wollte und ein Trümmerfeld zurückließ. Victor, der ewige Träumer, der nach Wolken haschte und doch nur Luft zwischen den Fingern spürte, während das Leben an ihm vorbeiraste, ohne auch nur die geringste Notiz von ihm zu nehmen.
Ich will ein Mountainbike und eine Swatch mit einer Micky Maus auf dem Zifferblatt, Papa. Felix‘ fieberschweres Gemurmel, bevor ihn sein Vater in Decken eingemummelt aus dem Krankenhaus entführte und sich den Jungen als Schutzschild für seine eigenen Ängste gegen die Brust presste.
Geschockt, dachte sie, ich müsste doch eigentlich geschockt sein.
Sie war es aber nicht. Tatsächlich wunderte sie sich mittlerweile nur mäßig über Victors plötzliches Wiederauftauchen, über das Mountainbike auf der Veranda und darüber, dass er sich seinem Sohn im Wald gezeigt hatte. Er spielte schon zu lange Haschmich mit der Polizei, verlor wahrscheinlich die Lust am Spiel, wurde kribbelig und nervös, weil das Warten und Verstecken seiner Ungeduld zuwiderlief. Früher oder später würde er auf der Türschwelle stehen und Hallo, da bin ich wieder sagen, geradeso, als sei er mal eben zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren. Vielleicht wollte er von ihr auf dem Dachboden oder im Schuppen versteckt werden und sich nachts an sie kuscheln, um wieder seine Luftschlösser zu bauen. Eine Hazienda in Mexiko oder eine Gewürzplantage auf Sulawesi. Nach einer neuen Wolke Ausschau halten.
Wenn er kommt, überlegte sie müde, wenn er es wirklich wagt, mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, nach all dem, was er uns angetan hat, dann rufe ich die Polizei.
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