Endlos lange Armeen von großen roten Waldameisen außer Schritt und Tritt kreuzten auf dem Marsch nach Irgendwo vor ihren Füßen den Weg. Lackschwarze Käfer funkelten im Licht, und einmal hopste ein kleiner verschreckter Frosch ins Unterholz zurück.
Sie blickte in die Kronen der Bäume. Spitzkegelige Kiefern, die unteren Äste schon abgestorben, braun und nadellos, die Spitzen kleine grüne und im Wind schwankende Weihnachtsbäume mit blinkenden Sonnenlichtkerzen. Dann wieder Buchen unterschiedlichen Alters mit glatten grauen Stämmen und einem Blättergewirr in allen möglichen Höhen, bauchig und verzweigt. Es gab noch andere Bäume mit geriffelter Borke und fingerförmigen Blättern, und kaum scheitelhohe Koniferen, deren lange gebündelte Nadeln altmodischen Rasierpinseln glichen. Lydia kannte ihre Namen nicht und fragte sich, ob sie wohl in der Pension ein Buch über die Bäume und Pflanzen des Moorsbacher Forstes erstehen konnte.
Heute Nachmittag, dachte sie entschlossen. Heute Nachmittag schlage ich all diese Bäume und Pflanzen in einem Buch nach. Zaghaft lächelnd hob sie im Schüttelregen einer Baumkrone ihr Gesicht und stand ganz still, die Hände wie gefesselt auf dem Rücken. Sie leckte sich die Tropfen von der Lippen, und sie schmeckten nach Hoffnung.
Aus einer schmalen steilen Klamm zwischen zwei Hügeln querte ein gluckernder Bach den Wanderweg, die eineinhalb Meter seines knietiefen Bettes von einer Holzbrücke ohne Geländer überspannt. Sie setzte sich auf die Bohlen und ließ die nackten Füße von dem eiskalten Wasser umströmen, bis sie sich taub anfühlten, und sie am ganzen Körper zu zittern begann. Plötzlich war die Panik wieder da, das Zittern rief sie ihr ins Gedächtnis zurück. Die ewige Kälte in ihren Knochen, die dicken Decken, die sie in diesem Sommer noch zusätzlich gebraucht hatte, wenn sie sich schlaflos, mit zuckendem Augenlid, im Bett wälzte und auf das Toc-Toc-Toc des Blindenstockes lauschte.
Sie rubbelte sich die Füße mit der Strickjacke, bis sie brannten, doch ihr Körper bebte unkontrolliert, und vergeblich suchte sie die Hoffnung von eben nachzuschmecken. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und lief hastig weiter, mit stolpernden Schritten, die Arme wieder abwehrend vor der Brust verschränkt. In einer dichten Kiefernschonung hörte sie es in der Finsternis knacken und begann zu rennen, bis sie die Wärme eines lichten Buchenwaldes mit nur vereinzelten Nadelbäumen umfing. Auf einer sonnendurchfluteten Lichtung hockte sie sich schließlich auf einen umgestürzten Baum, den Rücken zur Sonne und kramte in ihrer Umhängetasche nach den Zigaretten.
Zitronenfalter und Kohlweißlinge umflatterten große, schwefelgelbe Fingerhüte mit nickenden Köpfen. Schwüle Gewächshausluft stieg aus dem hohen nassen Gras auf, und während sie auf dem Baumstamm saß und rauchte, löste sich plötzlich das Rauschen in ihren Ohren, dieses ständige dumpfe Hintergrundrauschen seit dem Unfall, in Vogelstimmen und Laute des Waldes auf. Ein Specht klopfte hektischen Alarm. Aus dem Blättergewirr einer Buchenkrone tönte der melancholische Gesang einer Amsel. Im Gebüsch jenseits der Lichtung schmetterte ein Zaunkönig seine selbst komponierte Arie und aus den Wipfeln rings umher schimpfte, krächzte, tschilpte und zwitscherte es in jeder Tonlage. Mäuse raschelten durchs Unterholz, der Wind rauschte in den Blättern, und mit schiefem Kopf horchte sie auf das leise Plopp eines abfallenden Kiefernzapfens.
Lydia wagte sich nicht zu rühren, und schließlich sog nur noch der Windgeist an der Zigarette zwischen ihren Fingern. Sie fürchtete, mit einer unbedachten Bewegung das Hochgefühl des Augenblicks einfach auszulöschen und in das graue Rauschen zurückzusinken. Die Welt um sie herum war grün und golden und rötlich. Blitzendes blinkendes Sonnenlicht zwischen dunklen Stämmen.
Als sich die Sonne auf ihrer täglichen Runde über den Weg schob, sprang sie auf und trat hastig den Rückweg an. Noch immer sprach die Natur mit ihren vielfältigen Stimmen zu ihr, und das Rauschen der Furcht in ihren Ohren schwieg. Vögel sangen, Blätter raschelten, es knackte im Unterholz und morsche Stämme knarrten und ächzten. Ihr war als spaziere sie durch eine verzauberte Welt voll freundlicher Waldbewohner. Zwerge, Gnome und Elfen.
„Rübezahl!“, rief sie herausfordernd und lachte ein erstes frohes Lachen seit Monaten. „Gleich tritt Rübezahl hinter einem Baum hervor und spielt dir einen Schabernack.“
Es war nicht Rübezahl, es war der Junge, der hinter der Biegung des Weges auf den Brückenbohlen über dem quirligen Bach stand und auf sie wartete. Wie seine Mutter eineinhalb Stunden zuvor vom dunklen Ende des Flurs aus, so blickte nun er ihr reglos entgegen. Er trug verwaschene Jeans, ein kurzärmliges Poloshirt und Sandalen. Vor der Brücke lehnte das Mountainbike an einem Baum. Breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, Brust und Hüfte vorgeschoben, den Rücken im Hohlkreuz, so stand er da, mitten auf der Brücke und starrte ihr unbewegten Gesichtes entgegen. Das Lachen erstarb ihr auf den Lippen, und sie blieb unwillkürlich stehen.
Goldene Lichter spielten in Simons hellbraunen Haaren.
„Felix“, murmelte Lydia schwer atmend. „Felix, nicht Simon.“
Sie hatte beim Frühstück die Wirtin nach dem Jungen gefragt, aber nur die knappe Antwort Felix und dreizehn Jahre bekommen. Ihre Wortkargheit hatte Lydia einen Moment lang glauben lassen, sie wüsste alles, und es widerstrebe ihr, einer Frau, die ein Kind überfahren hatte, von ihrem eigenen Sohn zu erzählen. Lydia atmete tief durch, und ihre Panik schlug in Wut um. In Wut auf diesen kleinen Hebel in ihrem Kopf, der sich ständig von selbst umlegte und die grenzenlose Angst auslöste. Wut auf diesen unhöflichen Bengel, der dort mitten auf der Brücke aus sie lauerte und sie so unverschämt anglotzte. Wie durfte er es wagen? Ein Kind, ein freches Gör, ein sommersprossiger Bengel, von der Sonne ungleichmäßig gebräunt, in den Jeans einen Riss über dem Knie. Dieses Kind, das sich weigerte, ihr Respekt und Höflichkeit entgegenzubringen.
Wer wohl den Hühnern im Hof die Hälse umdrehte? dachte sie plötzlich. Der Junge oder seine Mutter?
„He, du!“, rief sie scharf und beschleunigte ihre Schritte. Sie würde ihm schon die Meinung zu seinem Verhalten sagen, wenn sie erst vor ihm stand. Ihn vielleicht am Arm packen, damit er sich nicht lachend wegdrehen konnte, so wie Simon sich immer lachend über ihre hilflose Wut weggedreht hatte, weil sie es nicht wagte, ihn in Gegenwart seines Vaters anzufassen. Nur dieses eine Mal, als er ihr in der Auffahrt den Weg zu seinem Vater im Haus verstellen wollte, und sie den Jungen einfach an den Schultern packte und grob zur Seite stieß, da hatte nicht er, sondern sie gelacht. Obgleich er ihr in den Magen boxte. Auch der Junge dort auf der Brücke würde nicht wagen zu lachen. Felix, der Sohn ihrer Wirtin. Als zahlender Gast des Hauses konnte sie ein Mindestmaß an Anstand verlangen. Genau das würde sie ihm ruhig aber bestimmt auseinandersetzen und ihn erst gehen lassen, wenn er sich bei ihr für sein nicht zu duldendes Benehmen entschuldigt hatte.
Der Junge starrte ihr noch immer stumm entgegen, aber seine Körperhaltung änderte sich. Die großspurige Herablassung wich angespannter Aufmerksamkeit. Er nahm langsam die Hände aus den Taschen und stand nicht mehr im Hohlkreuz sondern ganz leicht nach vorn gebeugt, den Kopf zwischen hochgezogenen Schultern. Sie lief noch schneller, aber kurz bevor sie die Brücke erreichte, durchfuhr ein Zucken seinen schmalen Körper. Einen Moment lang las sie pure Angst aus seinen Zügen, dann fuhr er auf den Hacken herum, rannte zu seinem Mountainbike und schwang sich in den Sattel. Sie begann ebenfalls zu rennen. Mit wehendem Rock, die Strickjacke von einer Schulter gerutscht, die Umhängetasche unter den Arm geklemmt, spurtete sie die letzten Meter bis zur Brücke, aber da sauste er auch schon davon.
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