Lydia blieb keuchend auf den schwarzen Holzbohlen stehen und starrte ihm wütend nach, als er mit Karacho die sanfte Steigung des Wanderweges hinaufholperte. Er stand in den Pedalen. Seine Beine bewegten sich wie Kolben, die Knie rauf und runter und rauf und runter. Jedesmal, wenn er ein Bein durchdrückte, schnellte der schmale Rücken vor dem Sattel in spitzem Winkel zur Seite. Zwei- oder dreimal blickte er sich zu ihr um, und dann fuhr er kleine Schlenker. Schließlich tauchte sein goldgesprenkelter Haarschopf hinter der Hügelkuppe ab.
Sie presste die Lippen zusammen und stolperte mit untergeschlagenen Armen vorwärts. Diesem ungehobelten Bengel fehlte nichts weiter als die züchtigende Hand eines Vaters, der ihm Respekt Erwachsenen gegenüber beibrachte. Höflichkeit und Benimm, ein anständiges Betragen vor den Gästen, schließlich betrieb seine Mutter eine Pension, einen Dienstleistungsbetrieb, dessen Florieren doch von einem zuvorkommenden Verhalten den Gästen gegenüber abhing. Simon war frech zu ihr gewesen, weil ihn die Affenliebe seines Vaters schützte und er es sich erlauben konnte, aber der Junge der Wirtin ...? Ahnte die von Redlingen überhaupt, dass sich ihr Sohn mutterseelenallein im Wald herumtrieb? Oder hatte sie ihn ihr etwa auf die Fersen gehetzt, sie zu bespitzeln? Du hast recht, mein Junge, die tickt nicht mehr richtig, fahr ihr hinterher und pass auf, an welcher Stelle im Wald sie die Leiche vergräbt.
„Unsinn, hör mit deiner Paranoia auf!“ Lydia schlug sich hart mit den Fingerknöcheln gegen die Schläfe, wieder und wieder, bis ihr das Wasser in die Augen schoss. Tränenblind verfing sie sich mit dem Fuß unter einer Wurzelschlinge und knallte mit dem Knie auf einen Stein. Eine Weile verharrte sie in der Hocke und wartete mit zusammengepressten Zähen auf das Nachlassen des Schmerzes. In ihren Ohren begann es wieder zu rauschen.
Als sie endlich aus dem Wald stolperte, schlug es von einem entfernten Kirchturm ein Uhr. Die Sonne glühte ihr beim Überqueren des Parkplatzes auf den Kopf, und sie lief eilig und im Zickzack um die Pfützen herum. Einmal, als sie aufblickte, sah sie Elsa von Redlingen hinter einer Fenstergardine im Esszimmer ertappt zurückschrecken. Ihr Gesicht verschwand, dafür tauchten zwei armlose Hände unter dem Tüll auf und rückten die Blumentöpfe wieder gerade. Lydias Haut begann zu kribbeln, ihre Nerven vibrierten. Die Wirtin spionierte ihr hinterher, misstraute ihr, und wieder brodelten die Zweifel hitzig in ihrem Kopf auf. Abreisen oder Bleiben? Bleiben oder Abreisen?
In ihrer Nervosität plapperte sie dann einfach drauf los, als sie die Wirtin zwischen Esstisch und Durchreiche abfing. Obgleich ihr die Worte lobender Begeisterung für die Natur nur so über die Lippen flossen, schien es ihr mittendrein peinlich berührt, als lobe sie jeden Baum und jeden Vogel einzeln. Später geriet sie endgültig ins Trudeln, als sie vom einigermaßen festen Boden halber Wahrheiten aufs Glatteis der Lügen schlidderte und haltlos vorwärts rutschte.
„Ein Streit. Eine abscheuliche Auseinandersetzung.“ Ihre Finger drehten fahrig am Ehering, ihre Pupillen zuckten über die Wirtin hinweg in die Ecken des Raumes, schnellten die Tapete hoch, jagten über Tisch und Stühle und fanden keinen Halt. „Wir lassen uns scheiden, wissen Sie, aber gestern, da kam er noch einmal ins Haus, weil es noch so viel zu besprechen gab. Und dann dieser grässliche Streit ...“
Und plötzlich konnte sie ihr Geplapper nicht mehr abstellen, fühlte sich außerstande, ihre Erklärungen schlüssig zu beenden. Sie wusste nicht mehr, ob sie am Morgen von einem Urlaub an der Ostsee oder an der Nordsee gesprochen hatte, und verfranzte sich in immer neuen Lügen über das wütende Gezanke, das Gezerre um Unterhalt und Fernseher und ihren plötzlichen Entschluss, einfach ihre Reisetasche zu packen, um all dem zu entgehen. Während ihre Stimme vor Anspannung zu schrillen begann, stürzte der Redestrom wie ein Wasserfall zu Tal, bis ihr ausgetrockneter Mund anfing, die Silben zu verwischen.
Endlich verhaspelte sie sich und keuchte bedrängt unter der Flut ihrer sinnlosen Worte.
Elsa stand stumm und unbeteiligt vor ihr mit der Schüssel dampfender Knödel in der einen und einem pilzüberhäuften Jägerschnitzel in Rotweinsoße auf einem Teller in der anderen Hand. Mit so teilnahmsloser Geduld wartete sie das Ende des Redeschwalls ab, dass Lydia es nicht wagte, sie anzusehen und auf den Gobelingroßvater an der Wand starrte, um ihre unsteten Pupillen auf einen Punkt zu zwingen. Sie brach mitten im Satz ab, presste die Lippen aufeinander, und Trotz legte sich über ihre Züge, bevor sie den Wunsch nach einem Zimmer für zwei oder drei Wochen am Ohr der Wirtin vorbeimurmelte. Ein bockiges Kind, das sich seiner Ausflüchte bewusst ist und scheltende Ablehnung erwartet.
„Natürlich, gern.“ Elsa stellte Schüssel und Teller an der Schmalseite des langen Tisches ab, ohne Lydias wirre Geschichte mit mehr als einem abschließenden Nicken zu kommentieren. „Möchten Sie Ihr jetziges Zimmer behalten oder doch lieber das hellere nach vorn heraus beziehen. Es ist insgesamt freundlicher, und Sie könnten sich abends auf den Balkon setzen, wenn die Stechmücken Sie nicht allzu arg plagen.“
Grenzenlose Erleichterung strömte Lydia durch die Adern. Aber ja, ja, prima, sie wolle mit Vergnügen umziehen, erwiderte sie mit einem Eifer, der übertrieben in ihren Ohren widerhallte und viel zu lange im Raum hängen blieb. Natürlich wolle sie umziehen, heller und ein Balkon, genau so ein Zimmer habe sie sich vorgestellt, und ja, ja, ein Jägerschnitzel mit Knödel sei absolut Spitze, genau das Richtige, viel besser als ein Pilzomelett, aber die viele Mühe ...
„Schon gut.“
Als sie mit brennenden Wangen vor ihrem Teller am Tisch saß, schlurfte der Junge durchs Esszimmer in die Küche. Wortlos und mit abgewandtem Gesicht, Arm und Ellenbogen aufgeschrammt, einen Riss im Hemd, eine blutverschmierte Scharte an der Stirn. Er gab sich Mühe, sein Humpeln zu verbergen. Er musste mit dem Mountainbike gestürzt sein, und nach einem langen prüfenden Blick zerteilte Lydia Vermeeren einen Knödel mit ihrer Gabel und lächelte.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Elsa von Redlingen mit beherrschter Stimme und versteckte ihre Hände in den Schürzentaschen. „Du hast dich nicht bei mir abgemeldet, deine Arbeit ist liegen geblieben, und das Jägerschnitzel für dich habe ich gerade unserem Gast serviert. Also noch mal, wo bist du gewesen.“
„Irgendwo“, entgegnete Felix mürrisch und versuchte sich, ohne sie anzusehen, an ihr vorbei zum Waschbecken zu drücken.
Wie es kam, dass sie ihn plötzlich mit beiden Händen, die doch eben noch tief in den Taschen steckten, an den Schultern gepackt hielt und durchschüttelte, wusste sie nicht. Aber sie tat es, sie schüttelte ihn durch, dass in den ersten Augenblicken sein Kopf haltlos vor- und zurückschnellte, als säße er auf einer Spiralfeder und nicht auf knochigen Wirbeln.
„Wo?“, flüsterte sie, außer sich vor Wut. „Wo? Wo? Wo?“ Und bei jedem Wo? klappten seine Zähne zwischen den vor Verblüffung offenen Lippen mit deutlichem Klack zusammen.
Dann spürte sie, wie er sich unter ihrem wütenden Schütteln versteifte und all seine Muskeln anstrengte, die Haltlosigkeit abzublocken. Sie ließ ihn so plötzlich los, dass er steifbeinig rückwärts stolperte und hart gegen die Ecke der alten, zerkratzen Edelstahlspüle prallte. Sie hörte ihn nicht aufstöhnen, registrierte jedoch, wie sich seine Augen vor Schmerz verengten. Erst jetzt nahm sie die Schramme an seiner Stirn wahr, die Schürfwunden an den Armen und sein trotzig verschlossenes Gesicht.
„Mein Gott, Junge, wie siehst du nur aus?“ Sie sank schwer auf einen Stuhl, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie weinte nicht, schon seit Monaten nicht mehr, zumindest flossen keine Tränen, aber es war diese bleierne Müdigkeit, die ihr immer öfter den Kopf schwer werden ließ. Als sie mühsam die Lider wieder hob, war Felix nicht mehr im Raum. Sie hörte im Badezimmer nebenan die Dusche laufen und stellte sich vor, wie er nun ganz allein versuchte, den Dreck aus den Schrammen zu spülen.
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