Einen Menschen zu töten, ist für einen Menschen, der nicht durch äußere wie innere Umstände dazu gezwungen wird, kein leichtes Unterfangen, hatte Oberst Utz Entle ausgeführt. Zwänge, entstanden aus Notlagen, Krankheiten, aus Leidenschaft, Hass, politischer Indoktrination und weiteren sehr unterschiedlichen Motiven, überdecken stets die natürliche Abneigung der menschlichen Psyche gegen Gewalt. Und es wäre ein Fehler zu glauben, eine rationale Entscheidung könne die Tötung eines Menschen beim ersten Mal vereinfachen, erklärte der schweizerische Offizier weiterhin. Für Entscheidungshilfen zur Tat siehe auch A wie Angst beziehungsweise F wie Furcht, G wie Gefängnis, G wie Gewissen, L wie Lampenfieber und P wie Polizei. Überwiegend aber verzichtete Oberst Entle darauf, seinen Leser von der Tat abzubringen. T wie Tat. Siehe auch M wie Mordtat. T wie Tat ausführen. M wie Morden. T wie Tötungsabsicht. T wie Tatort. Seite 820. In einer 8–Punkt–Schrift abgedruckt, also winzig und für Max Heiliger nur mit Lesebrille und Lupe gleichzeitig zu lesen, hatte sich der Auftragsmörder in spe über die richtige Wahl des Tatortes informiert. Die Beschreibung überzog mehrere Seiten.
Max Heiliger hatte sich für den Schrottplatz entschieden. Der Hund, ein großer Rottweiler, auf dem Gelände meist freilaufend, bereitete ihm nun auch keine Probleme mehr. Maria Deller hatte für die Hinrichtung des Tieres gesorgt. Cornelius Deller sollte erstochen werden. Das war beschlossene Sache. Zweifellos kein schöner Tod, immerhin aber glaubte Max Heiliger, es werde außerordentlich schnell vonstatten gehen und für Cornelius Deller keine Qualen bedeuten. Von der wirklichen Todesursache würde am Ende nichts nachweisbar sein. S wie Schwäche. Jeder Mörder wies eine Schwäche auf. Niemand war in seinem Verhalten, in seinem Auftreten, geistig wie körperlich perfekt. Oberst Utz Entle formulierte Schwäche als potentielle Fehlerquelle. Dann, resümierte Max Heiliger, bin ich eine einzige Fehlerquelle. Max besaß nicht die Kraft, um in einem Kampf gegen den vierschrötigen Cornelius Deller zu bestehen. Ihm blieb nur U wie Überraschung, das Überraschungsmoment. Nur eine einzige Gelegenheit. Mehr nicht. Kalter Schweiß trat auf Max' Stirn. Er hatte das Buch in aller Sorgfalt durchgeblättert, doch nirgends gab es den Hinweis, den wirklich praktischen Rat, wie man es bewerkstelligte, eine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. So, wie es oft propagiert wurde. Mit diesen Gedanken kehrte Max in die Wohnung zurück, wo er Emilie wach im Türrahmen zum Schlafzimmer stehend vorfand, leicht benommen und desorientiert. Ihre blassen Augen glommen im einfallenden Mondlicht des Deckenfensters.
»Max?«, fragte sie in einem Tonfall, der ihm das Herz zerriss. »Ich weiß nicht, wo ich bin.« Sie legte eine Hand vor den Mund. »Ich weiß nicht, wann ich bin«, stammelte sie.
»Es ist Nacht, mein Schatz«, antwortete Max und fühlte mehr, als er es selbst sah, wie ihre blinden Augen einen Kontakt herzustellen versuchten. »Du bist in unserer Wohnung und es ist noch viel zu früh, um aufzustehen. Komm, ich bringe dich wieder ins Bett.«
»Du warst nicht da«, stellte sie enttäuscht fest.
»Ich musste mal«, sagte er, während er sie Schritt für Schritt zum Bett führte.
»Mit Jacke?«, fragte Emilie über seinen Ärmel tastend. Die Enttäuschung in ihrer Stimme schwoll immer mehr an.
Max Heiliger überlegte kurz, wie er mit ihrem Misstrauen umgehen sollte. Er antwortete nicht, aus falschem Stolz heraus, denn schließlich unternahm er diese Aufgabe für sie beide, und er wollte ihr darüber keine Rechenschaft ablegen.
Keiner der beiden sagte ein weiteres Wort bis zum nächsten Morgen. Max Heiliger brannte für seine Aufgabe, die all sein Denken in Anspruch nahm. In dem Moment, da er Emilie versorgt wusste, gab er sich ganz der Lösung des Problems, wie er es insgeheim nannte, hin. Der Schrottplatz war für Cornelius Deller nicht der hauptsächliche Broterwerb. Längst wusste seine Stiefmutter über die wesentlich einträchtigere Beschaffung und Hehlerei von Kupfer und anderen Metallwaren Bescheid. Die Polizei hatte vor mehreren Monaten eine Durchsuchung durchgeführt, allerdings hatte der gewitzte Cornelius Deller entweder keine Hehlerware auf dem Gelände oder sie war gut versteckt gewesen.
»Gut versteckt«, hatte Maria Deller berichtet, »und ich weiß auch wo.« Sie hatte Max Heiliger die Verstecke gezeigt. Unter alten Schrottkarosserien verborgen. Lediglich über den Kran ließen sich die Verstecke öffnen und schließen. Auf dem matschigen Boden des Geländes, auf dessen Beschaffenheit Cornelius Deller aus diesem Grund peinlich genau achtete, genügten einige Runden mit einem Transporter, damit jegliche verräterische Spuren in Minuten ausgelöscht wurden. Die Ermittlungsbeamten hätten den Kupferhehler schon auf frischer Tat ertappen müssen. »Auf die Idee«, hatte Maria Deller gesagt, »den ganzen Platz umzugraben, sind sie nicht gekommen. Und ich hab's ihnen nicht gesagt. Wenn Cornelius im Knast landet, kann ich das hier trotzdem nicht verkaufen. Irgendwann kommt er wieder raus und ich bin ihn immer noch nicht los.«
Max Heiliger betrat am nächsten Sonntag, vier Tage später und drei Tage vor dem geplanten Abflug von Cornelius in den unverdienten Urlaub, den Schrottplatz. Es regnete. Ein kalter Oktoberregen mit dicken Tropfen, die beim Aufprall zerplatzten. Das kurze Stück von der Bushaltestelle hierher hatte ausgereicht, dem Regen genügend Gelegenheit zu geben, Max Heiliger bis auf die Unterwäsche zu durchnässen. Vernünftige Regenbekleidung nannte er nicht sein eigen. Nach den ersten Schritten auf dem Schrottplatz schwappte der Matsch über die Ränder seiner Schuhe ins Innere und quoll durch die Socken auf die blanke Haut. Regentropfen liefen über seinen Nasenrücken, sammelten sich an der Nasenspitze zu einem noch größeren Tropfen, der, als er endlich schwer genug war, sich löste und in beinahe trauriger Langsamkeit herab fiel. Max Heiliger atmete schwer und kämpfte sich über das Gelände voran, dem aus Altmetall geformten Labyrinth, wie ein Held im Märchen oder einer antiquierten Sage, auf der Suche nach dem Verderben in Gestalt eines Riesen.
Denn riesig war Cornelius Deller auch noch, nicht mütterlicherseits natürlich, nur von der Vaterseite her, des Mannes, der mit einer Größe von annähernd zwei Metern selbst Maria Deller überragt hatte. Cornelius hatte den hohen Wuchs seines Vaters nicht zur Gänze erreicht. Mit einer Größe von 1,95 Meter, breitem Kreuz und Stiernacken, wirkte er dafür umso bedrohlicher, wie er mitten in einem der Zufahrtswege zwischen den Schrottwagen mit seinem olivgrünen Armeeponcho bekleidet auf Max wartete. Sein Gesicht verschwand im Schatten der Kapuze. Von U wie Überraschung fanden sich Querverweise zu A wie Ahnungslos und T wie Täuschung. So hatte Max Heiliger gelernt, sich noch schwächer erscheinen zu lassen, als er in Wirklichkeit war und sammelte indes alle verbliebenen Kräfte für einen geballten Akt höchster Geschwindigkeit. Doch das sagte sich so leicht. Die schneidende Kälte setzte seinen alten und völlig untrainierten Muskeln gnadenlos zu. Den Stock hielt Max nicht so sicher in der rechten Hand, wie er es sich vorgenommen hatte. Alles in allem glitt er hinüber in einen sehr diffusen Zustand, in dem, verbunden mit dem strömenden Regen, eine erstickende Lethargie ein wünschenswertes Ziel zu sein schien. Gedankenlos und frei. Emilie. Ihr Name gleißte vor seinem inneren Auge mit der Gewalt einer Bombenexplosion auf. Für sie nahm er dieses Risiko auf sich. Emilie. Max Heiliger rang sich ein Lächeln ab.
»Was is jetzt so dringend?«, fragte Cornelius Deller den alten Mann. Wie immer verzichtete er auf eine Begrüßung.
Max kramte in seiner linken Jackentasche und zog eine vergilbte Polaroidaufnahme hervor. Er reichte sie an Cornelius, der sie im Regenschatten seiner Kapuze betrachtete und dabei mürrisch vor sich hingrunzte.
Читать дальше