Du hast bereits Schwäche gezeigt, als du auf Mutnofrets Geheiß die Leibwache deines Vaters aus Theben fortgeschickt hast, als wären sie Dreck unter deinen göttlichen Füßen. Sie hätten dich geliebt und beschützt, wie sie unseren Vater schützten, doch nun werden sie nichts mehr tun, auch wenn du sie befreist. Jetzt wirst du nichts als Dreck unter ihren einfachen Soldatenfüßen sein. Aber das sagte Hatschepsut ihrem verängstigten Bruder nicht. Statt dessen begann ihr Verstand zu arbeiten. Ihr Vater hatte die mächtige Stadt Kerma, die über das Goldland herrschte, besiegt, doch der Stolz der Bewohner und derjenigen, die sich für die rechtmäßigen Erben hielten, war ungebrochen. Bisher hatten sie sich gegenseitig bekämpft, da jeder Anspruch auf den Herrschertitel erhob. Nun schienen sie erkannt zu haben, dass ohnehin niemand von ihnen herrschen würde, wenn sie den Horussohn nicht aus ihrem Land vertrieben. Ihren Vater hatten sie gefürchtet – Thutmosis kannten sie nicht. Ihr Bruder hätte es wissen müssen und anstatt einer Leibwache von dreihundert Mann ein Heer ins Goldland schicken sollen ... mit ihm selbst an der Spitze, damit sie wussten, dass Ägypten stark war und ein Aufstand sich nicht lohnte.
Gleich einer Schlange schob sich Isis von ihrem Platz hinter dem Thron an Thutmosis Ohr. „Lass diesen Mann hinrichten und vergiss sein Gerede. Du bist der Herr allen Lebens. Das Goldland wird sich beruhigen. Das hat es immer getan.“
Thutmosis nickte, während in Hatschepsut die Erinnerung an Amenis Gesicht aufflammte. Schon längst war er ein Teil ihrer Vergangenheit geworden – das hatte sie zumindest geglaubt. Doch Sarys Auftauchen ließ die gestohlenen Nächte und die verbotenen Umarmungen in ihrem Herzen aufleben, als wären sie nie getrennt worden. Und die Männer, die nun im Goldland dem Tode geweiht waren ... ihre Verschworenen. Sie alle hatten geschwiegen und hatten sie und Ameni beschützt. Hatschepsut wusste im gleichen Augenblick, dass sie es nicht zulassen konnte, dass sie dort starben - schon wegen Ameni und um das zu erhalten, was ihr Vater für Kemet erkämpft hatte. „Du bist ihr Pharao – sie vertrauen dir ... noch. Wenn du nichts tust, werden sie sich fragen, ob die Worte dieses Mannes wahr sind. Du musst seine Behauptungen überprüfen lassen – und bevor nicht geklärt ist, ob er die Wahrheit gesagt hat, darfst du ihn nicht hinrichten lassen“, zischte Hatschepsut ihrem Bruder zu, während die Höflinge unruhig wurden, da sie das Getuschel auf dem Thronpodest sahen, aber nicht die Worte verstehen konnten, die gesprochen wurden.
„Haatsch – ich brauche die Truppen im Norden. Syrien, die Hethiter, von dort droht größere Gefahr.“
Hatschepsut verschloss sich gegen die feigen Reden des Bruders und selbst das Kind in ihrem Bauch schien aufzubegehren und trat kräftiger als sonst gegen ihre Bauchdecke. Sie waren sein Volk, wie konnte er nur so gleichgültig sein. „Ein paar Hundert Männer würden ausreichen – zusammen mit den Soldaten der Grenzfestung Buhen. Du musst gerecht bleiben, damit sie dich achten, und du musst Truppen ins Goldland schicken, sonst verlierst du die nubischen Minen.“
Das schien Thutmosis endlich zu beunruhigen, denn er suchte den Blick von Isis, die jedoch abwehrend den Kopf schüttelte. Hatschepsut fasste einen Entschluss, kaum dass sie länger über ihren Gedanken nachgedacht hatte. „Entsende mich ins Goldland in deinem Namen. Lass uns eingreifen, bevor es zu spät dafür ist. Wir müssen ihnen zeigen, dass auf Ägyptens Thron ein starker Herrscher sitzt, der die Maat achtet.“
Seine weichen Züge unter dem Nemestuch mit dem Uräus zeigten sich überrascht, und es fiel ihm schwer, sein Misstrauen nicht zu verbergen. „Haatsch, du trägst meinen Sohn. Sein Leben ist wichtiger als das der Soldaten.“
Hatschepsut legte sich ihre Worte sorgfältig zurecht, bevor sie antwortete. „Du weißt, dass er nicht nur dir wichtig ist. Ich schwöre bei allen Göttern, dass ich ihn schützen werde, den Falken im Nest.“ Sie sagte es laut und deutlich und meinte zu spüren, wie Mutnofret und Isis auf ihren Plätzen hinter dem Thron des Königspaares zusammenzuckten.
„Lass sie doch gehen, wenn sie es unbedingt will“, schnippte Isis Stimme gerade zur rechten Zeit in ihrem Rücken auf. Hatschepsut verbot sich ein zufriedenes Lächeln, da Isis so schnell den Köder gepackt hatte.
„Kann ich dir vertrauen, Schwester?“, fragte Thutmosis unter zusammengekniffenen Augen, und winkte dann bereits seinen Schreiber heran. Hatschepsut nickte mit klopfendem Herzen und wich seinem Blick nicht aus. Plötzlich schnellte Mutnofrets Kopf hinter dem Thron hervor wie der einer Königskobra. „Sie will die Truppen auf ihre Seite ziehen, mein Sohn, siehst du das denn nicht!“
Hatschepsut hätte Mutnofret gerne befohlen zu schweigen, wagte es jedoch nicht, da sie fürchtete, Thutmosis würde sie vor allen Augen in ihre Schranken weisen und damit den versammelten Höflingen ein deutliches Zeichen ihres geringen Einflusses geben. Thutmosis gab dem Schreiber einen Wink zu warten, denn wieder war er verunsichert. Scheinbar unendlich lange hielten die Höflinge die Luft an, und im Thronsaal war es so leise, dass Hatschepsut kaum zu atmen wagte. Endlich wandte sich Thutmosis ihr wieder zu. „Ich werde dir vertrauen, Schwester! Aber ich gebe dir nur fünfhundert Soldaten. Wie du die Aufstände eindämmst, ist dir überlassen. Wenn es dir nicht gelingt, das Goldland zu befrieden und sich die Geschichte des Soldaten als Lüge herausstellt, wirst du den Schaden haben – nicht ich.“
Hatschepsuts Mut sank so schnell, wie er aufgeflammt war. Fünfhundert Soldaten! Das war wenig, viel zu wenig, aber mehr würde Thutmosis ihr nicht zugestehen, aus Angst, seiner Schwester ein Heer in die Hände zu spielen, das sich hinter sie stellen würde. Hatschepsut lächelte nicht noch dankte sie Thutmosis für sein Misstrauen – sie wusste, dass Mutnofret und Isis die Zeit ihrer Abwesenheit zu nutzen wüssten. „Den Einäugigen nehme ich mit, damit er uns führen kann.“
Ihr Bruder verweigerte ihr auch das nicht, froh darüber, nicht selbst entscheiden zu müssen, was mit ihm geschehen sollte. Er trug Hatschepsut jedoch auf, den Soldaten, egal ob er die Wahrheit gesprochen hatte oder nicht, entweder in Nubien hinrichten zu lassen oder auf einem Außenposten zurückzulassen. „Ich traue ihm nicht“, war seine Begründung für seine Entscheidung. Hatschepsut hatte seine Worte kaum noch gehört. Sie wusste mit einem Mal, wen sie jetzt brauchte. Wenn du nicht mehr weißt, wem du trauen kannst – ihm kannst du vertrauen.
Senenmut blickte hinaus durch den Eingang seiner Empfangshalle, wo er gerne seine Nachmittage verbrachte und die friedliche Stimmung genoss. Seine Räume im Palast bewohnte er nur noch selten, seit der Einzig Eine in seiner Barke über den Himmel fuhr. Er war ihm schon immer zu laut, zu verlogen und zu unübersichtlich gewesen, dieser Palast mit seinen Höflingen und Intrigen. Nur um seinem Herrn besser dienen zu können, hatte er seiner Bitte entsprochen, dort zu leben. Doch nun war es nicht mehr nötig. Senenmut war ein Mann der Klarheit und geraden Wege. Wie sein Vater Ramose ihn gelehrt hatte, sich nicht von vergänglichen Dingen täuschen zu lassen, hatte er als junger Mann seinen stetigen Aufstieg begonnen und war aus den bescheidenen Verhältnissen seines Elternhauses zum Freund und Berater des Lebenden Gottes aufgestiegen. Nach der Priesterweihe hatten die Götter es ihm bestimmt, im Heer des Pharaos zu dienen, wo er sich durch Klugheit und Tapferkeit verdient gemacht hatte. Als Dank für seine Treue war Senenmut nach seiner Zeit in Pharaos Heer schließlich zum Vorsteher der Kornspeicher des Amun ernannt worden, was nicht weniger bedeutete, als dass er die zugedachten Erträge des überaus reichen Karnaktempels verwaltete. Senenmut tat dies klug und bescheiden, was ihm den Oberpriester des Amun zum Freund gemacht hatte. Nun war er selbst ein wohlhabender Mann mittleren Alters und konnte die Früchte ernten, die er über viele Nilschwemmen gesät hatte. Sogar die Heirat mit einer Thebanerin adeligen Blutes würde ihm nicht mehr verwehrt sein, denn niemand fragte noch nach seiner geringen Herkunft – Senenmut hatte den Makel seiner einfachen Geburt mit Ehre, Ansehen und Wohlstand überdeckt; und mit seinem Herrn waren auch seine Pflichten dem Horus gegenüber gestorben, die ihm lange nicht die Zeit für eine eigene Familie gelassen hatten – Senenmut war endlich frei für ein eigenes Leben - oder doch nicht?
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