Sie gingen über den Hof zurück zur Einfahrt, um zum Deich zu gelangen. Nach etwa zwanzig Metern verengte sich die Straße zu einem einspurigen Weg, der nahtlos in den Deichwehrweg überging. Kurz bevor sie den Deich erreichten, mussten sie über ein Metallgatter klettern, an dem zu diesem Zweck auf beiden Seiten Trittstufen angeschweißt waren.
„Rikus hat einen Schlüssel zum Tor, aber ich weiß nicht genau, wo er liegt“, sagte Beene entschuldigend.
Sie gingen noch etwa hundert Meter weiter, bis eine befestigte Auffahrt – die Deichrampe, wie Beene erklärte – vom Weg abzweigte und sie in sehr mäßiger Steigung den Deich hinaufführte. Anja wäre am liebsten auf direktem Weg zur Deichkuppe hochgerannt, aber das Gras war nass und von Schafskötteln durchsetzt, auch wenn im Moment keine Tiere zu sehen waren, sodass sie freiwillig auf der Rampe blieb. Als sie endlich oben ankamen, war die Aussicht enttäuschend. Vor ihnen erstreckte sich kilometerweit gelbes Schilfgras, und Wasser sah man nur weit entfernt am Horizont glitzern.
„Hier ist ja gar kein Wasser!“, rief Anja, die sich betrogen fühlte, obwohl Beene nur von Deich und nicht von Wasser gesprochen hatte. Aber was sollte man auch sonst hinter einem Deich vermuten?
„Ich hatte jetzt echt erwartet, dass hier die Nordsee dranschwappt.“
„Nein, das tut sie hier schon lange nicht mehr“, erklärte Beene. „Außer bei Sturmfluten natürlich, denn dazu ist der Deich ja da. Aber der Dollart verlandet in dieser Ecke schon seit Hunderten von Jahren. So sind auch die Polder entstanden. Immer wenn ein Teil der Bucht so weit verlandet war, dass sie bei normalem Hochwasser nur noch knapp überspült wurde, versuchte man, sie einzudeichen. Auf der Landseite hob man tiefe Gräben aus, um das Land dauerhaft zu entwässern. Manchmal ging alles gut, manchmal eroberte sich eine Sturmflut auch das Land zurück, wenn die Deichbauer nicht schnell genug waren. Heute werden zwar keine Polder mehr angelegt, aber die natürliche Verlandung geht weiter, unterbrochen von starken Sturmfluten, die manchmal ein bisschen was davon wieder wegreißen.“
„Ich dachte immer, die Menschen hätten dem Wasser hier Stück für Stück den Raum streitig gemacht, es sozusagen mit Bollwerken zurückgedrängt, um Lebensraum für Siedler zu schaffen“, bemerkte Anja mit einem verlegenen Lächeln über ihre naive Vorstellung von der Geschichte der Landgewinnung.
Beene lachte.
„Nein, so dramatisch war es, glaube ich, nicht. Dramatisch war wahrscheinlich das fünfzehnte Jahrhundert, als die Nordsee hier Land gefressen und bestimmt zwanzig Siedlungen mitgerissen hat. Damals ist der Dollart erst entstanden. Und dann haben die Cosmas- und Damiansflut 1509 und die Antoniflut 1511 ihn richtig groß gemacht. Wo lange Zeit Menschen gewohnt hatten, stand auf einmal das Wasser bis Bunde.“
„Aber das verstehe ich nicht so ganz“, hakte Anja nach. „Warum hat damals die Nordsee das Land gefressen und heute spuckt sie es dort wieder aus?“
Sie deutete mit einer weiten Armbewegung auf den Schilfgürtel vor ihnen.
„Das lag am Boden. Das Wasser hat damals Moorgebiete weggeschwemmt, die wahrscheinlich nicht eingedeicht und nicht einmal richtig entwässert waren. Genau weiß ich es nicht mehr. Das was hier jetzt anlandet, sind aber Kleisedimente, daraus wird sehr fruchtbarer Marschboden, wenn man ihn eindeicht. Und wenn er trocknet, ist er hart wie gebrannter Ton. Die Deiche sind daraus gebaut, nichts ist haltbarer. Selbst wenn eine große Sturmflut einen Teil des Deichvorlandes hier mitreißen würde, ganz würde es nicht verschwinden und in den Jahren danach wieder angeschwemmt werden.“
„Dann hat sich das Meer selbst einen Strick gedreht, indem es das weichere Moorland weggespült hat. Es ist an seiner eigenen Gier gescheitert“, schlussfolgerte Anja, während Beene sie amüsiert betrachtete.
„Wenn du es als eine Schlacht zwischen dem Meer und den Menschen betrachtest, mag das stimmen. Aber ich glaube, das Meer verfolgt keine Ziele, am wenigsten eine Vorstellung vom Sieg gegen die Menschheit. Das Meer denkt nicht, es ist einfach nur da, im ewigen Gezeitenrhythmus, mal mehr, mal weniger. Manchmal nimmt es etwas und reißt es mit sich fort, eine zufällige Laune der Natur. Und in diesem Fall hat es uns mal etwas geschenkt.“
Anja lachte.
„Eigentlich bin ich auch gar nicht so dramaversessen. Ich war nur enttäuscht, weil der Deich einfach nicht hält, was er verspricht.“
Mit gespieltem Trotz stampfte sie auf die Deichkrone.
„Vorsicht!“, warnte Beene mit vorgetäuschtem Entsetzen. „Sowas dürfen hier nur die Schafe mit ihren schmalen Füßchen machen und kein ausgewachsenes Ostfriesenweib.“ Anja boxte ihn kumpelhaft in die Seite und schaute sich dann nach allen Seiten um.
Auch im Westen, direkt hinter der Grenze, war ein Deich zu sehen. Dahinter lag allerdings kein Meer, sondern die Westerwoldsche Aa, die hier in den Dollart mündete und durch eines der vielen friesischen Wasserbauwerke, das Nieuwe Statenzijl, sicher vor den wilden Fluten der Nordsee geschützt war. Der kleinere Deich ging im Norden nahtlos in den Seedeich über, wodurch dessen Fortsetzung entlang der niederländischen Küste und auch das Siel vom Haus aus nicht zu sehen gewesen waren. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus konnten sie nun erkennen, dass es auf der niederländischen Seite keinen Deich entlang des Flüsschens gab, aber anscheinend trauten die Ostfriesen der Niederländischen Sielbaukunst nicht allzu viel zu und meinten, sich noch einmal extra schützen zu müssen. Doch auf Anjas Frage konnte Beene diesmal nur mit seinen Schultern zucken.
„Keine Ahnung, wieso auf dieser Seite ein Deich ist und drüben nicht. Mein Wissen reicht nur bis zur Grenze“, gab er selbstironisch zu und musste lachen.
„Woher weißt du überhaupt diese ganzen Sachen über Landgewinnung und so? Interessierst du dich für Heimatgeschichte?“
„Nein, Heimatkunde. Ich hatte eine tolle Grundschullehrerin, die es uns erklärt hat. Und die Jahreszahlen und Namen habe ich wegen der Karte im Wohnzimmer nachgelesen, als ich hierhergezogen bin.“
„Wow, phänomenales Gedächtnis“, sagte Anja anerkennend. „Und was sind das für schräge Namen, Damiansflut und so?“ Beene zuckte mit seinen Achseln.
„Ich glaube, das sind katholische Heilige, und die Fluten hießen so, weil sie an den Namenstagen dieser Heiligen stattgefunden haben. Klingt auch besser als ‚Die Flut vom 10. Dezember‘ oder so. Ich weiß die Daten aber nicht genau.“
Beene zeigte auf eine große Holzhütte auf Stelzen, die in einiger Entfernung mitten im Schilf stand.
„Dort können wir demnächst einmal hinwandern, das ist die Kiekkaaste, ein Vogelbeobachtungshaus vom NABU. Von dort aus kann man auch über das Wasser schauen.“
Beene schaute auf seine Armbanduhr.
„Aber jetzt muss ich zurück, gleich kommt Hermi zum Melken.“
Anja schaut ihn fragend an.
„Wer ist das denn?“
„Ein leicht debiler Hofhelfer, den ich von meinem Onkel geerbt habe. Den kann ich leider nicht allein machen lassen.“
Die beiden machten sich auf den Rückweg. Dabei schauten sie in südlicher Richtung über das Grünland des Hammrichs, das sich hier noch viel weiter und flacher zu erstrecken schien als das Schilf auf der anderen Seite des Deiches. Über sie hinweg flog in Form einer langgestreckten Eins eine Schar Gänse, die sich anschließend schnatternd auf den Wiesen jenseits des Hofes niederließen.
„Die ersten Graugänse“, stellte Beene mit melancholischer Stimme fest. Der Winter kündigte sich an und bis zu den Enten auf den frostigen Gräben war es auch nicht mehr lang hin. Während sie zurückgingen, verabredeten sie, dass Anja schon einmal Kartoffeln schälen könnte, solange Beene melken musste; eine klassische Trennung der Zuständigkeitsbereiche, wie Anja lachend feststellte. Ihre depressive Stimmung war wie weggeblasen, sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.
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