„Ich wollte einfach komplett verschwinden, verstehst du? Mich unsichtbar machen, ohne wirklich abhauen zu müssen. Ich wüsste nämlich nicht, wohin ich sonst gehen sollte, also außerhalb von Leer. Und außerhalb der Familie. Wenn ich weiter zur Schule gehen würde, könnten meine Schwestern mich dort immer abfangen.“
„Hattet ihr Streit?“
„Ja, aber es ist auch nicht nur der Streit ...“
Anja zögerte.
„Ich brauche einfach eine Auszeit. Auch von meinen Freunden, von meinem Leben in Leer, von allem.“
Ihre Vorstellung vom Verlassen eines Kokons, der keinen Schutz mehr bot, ihre Idee von einem Neuanfang verschwieg sie Beene. Es erschien ihr doch zu pathetisch, zu gewichtig, außerdem hielt sie selbst den Josefspolder kaum für den richtige Ort, um ein neues Leben zu beginnen. Das Bild des Untertauchens passte hier besser.
„Okay.“
Beene insistierte nicht weiter.
Dann zählt sie mich wohl nicht zu ihren Freunden und ich bin gerade nur ein gutes Mittel zum Zweck , dachte er bei sich. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und wechselte das Thema.
„Wollen wir vielleicht noch einen Spaziergang zum Deich machen, bevor ich nachher melken muss? Oder möchtest du dich vielleicht etwas hinlegen?“
Die Vorstellung war sehr verlockend, aber Anja schauderte es beim Gedanken an das graue Schlafzimmer, also entschied sie sich lieber für den Spaziergang.
Auf dem Weg nach draußen schlossen sie die Besichtigungstour durch das Haus ab. Kurz hinter der Küche endete der dunkle Gang an einer Tür, die in die ehemalige Waschküche führte, und hinter dieser Tür gab es noch einmal zwei Treppenstufen, die sie innerhalb des Hauses wieder bis auf Höhe der Straße hinunterbrachten. Im hinteren Bereich des Raumes konnte man mit Brettertüren zu verschließende Holzeinbauten, die Butzen, erkennen, in denen früher das Gesinde geschlafen hatte, heute standen hier nur noch eine ganze Reihe Gummistiefel und eine Waschmaschine.
Hinter der Waschküche lag wieder ein Gang, der zur alten Melkkammer und in den Stallteil führte, in dem heute aber keine Kühe mehr standen, sondern nur noch Heu und Stroh lagerten, der Trecker und andere Maschinen untergestellt wurden und der für Anja eine weitere Überraschung bot.
Ostfriesische Bauernhäuser waren als Gulfhöfe konstruiert. Wie die Säulen einer Kathedrale trugen zwei Reihen schwerer Eichenständer die Dachkonstruktion des Stalls und unterteilten ihn räumlich in den mittig liegenden Gulf, die Diele und den Viehstall, die links und rechts davon lagen wie die Seitenschiffe in einer Kirche. Als Gulf wurde dabei nicht nur das gesamte Mittelschiff des Bauwerks bezeichnet, sondern auch jedes einzelne Geviert, dass sich aus zwei Ständerpaaren ergab, die durch Quer- und Längsbalken miteinander verbunden waren. Der Hof der Boekhoffs hatte sechs Gulfe. Jeder Gulf war neun Meter breit und sechs Meter lang, woraus sich die Gesamtlänge des Stalls von sechsunddreißig Metern ergab.
Anja und Beene hatten den Gulf durch eine Verbindungstür betreten, die links neben dem großen Dielentor lag, durch das der Trecker vom Hof aus hereingefahren werden konnte, und Anjas Blick ging durch die volle Länge der Diele und zum zwölf Meter hohen First hinauf. Sie hielt für einen Moment die Luft an und bewunderte die Konstruktion des Ständerwerks. Parallel zu den großen Stützpfeilern wurden Diele und Viehstall jeweils noch von einer Reihe kleinerer Ständer durchzogen, die etwa zwei Meter vor den seitlichen Mauern verliefen und ebenfalls Längsbalken trugen.
Am oberen Ende eines jeden Ständers zweigten vier Querverbindungen ab, die schräg die aufliegenden Balken hielten. Diese sogenannten Kopfbänder wirkten wie aufgesetzte Kronen und hoben den Eindruck rechtwinkliger Verbindungen auf. Sie verliehen der gesamten Konstruktion etwas Rundes, Kuppelartiges, ein hohes breites Gewölbe lag mittig, zwei niedrigere und schmalere links und rechts davon. Insgesamt war es ein Meisterwerk der Zimmermannskunst, von dessen Existenz Anja vorher noch nie etwas gesehen oder gehört hatte.
„Wahnsinn! Sind alle Höfe hier so gebaut?“, fragte sie mit leuchtenden Augen und Beene nickte stolz.
Auf den Längsbalken ruhten in achtzig Zentimetern Abstand voneinander die Sparren. Nach oben liefen die Speere, die sich im First trafen und etwas unterhalb durch die querlaufenden Hahnenbalken zusätzlich miteinander verbunden waren, nach unten die Uplanger, die bis zu den niedrigen Seitenwänden hinunterreichten. Jeder dieser Sparren war mindestens acht Meter lang, insgesamt mussten es Tonnen von Holz sein, die hier verbaut waren.
In das Dach waren etliche Glasziegel eingelegt und diffuses Sonnenlicht zog in Bahnen durch den Raum und verstärkte den Eindruck geheimnisvoller Großartigkeit. Langsam gingen sie die Diele entlang.
Auf der Diele selbst stand nur der Trecker, doch im hinteren Bereich war seitlich der Kälberstall eingebaut, ein Bretterverschlag zwischen drei der niedrigeren Balken und der Außenmauer. Im mittigen Gulf waren große Heuballen aufgestapelt, die Blick und Durchgang von der Diele zum rechts liegenden Viehstall versperrten. Anja und Beene gingen bis zum ehemaligen Pferdestall an der rückwärtigen Giebelwand. Hier standen Gartengerätschaften und alte Plastikstühle herum sowie allerlei Kram, den Anja am ehesten für Sperrmüll hielt.
Ein Durchgang führte auf die andere Seite des Stalls, und wenn man von hier aus den Blick zurück auf das Wohnhaus richtete, konnte man einen Dachboden erkennen, der über den Wirtschaftsräumen lag und auf dem kleine rechteckige Strohballen gestapelt waren.
Auf der Südseite lag der ehemalige Kuhstall. Die Anbindestellen waren noch deutlich durch die in die Wand eingelassenen Ringe und die gemauerten Tränken erkennbar, der Boden war dort, wo das Vieh gestanden hatte, aufgemauert und mit Klinkern gepflastert. Zwischen Gang und Boxen lag die tiefe Rinne für den Mist, die bis zur Hintertür führte und dort in ein Rohr mündete, das unter der rückwärtigen Giebelwand hindurchlief.
Der Stall wurde seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt und über allem lag eine dicke Schicht aus Staub, doch ursprünglich war alles einmal gut gereinigt worden, als die Tiere umzogen. Anja schaute sich die Tränken und Ablaufrinnen interessiert an, und Beene konnte ihr noch einige zusätzliche Dinge erzählen.
„Früher wurden die Ställe alle mit einem Gefälle von zwei Prozent gebaut. Das hat man gemacht, damit das Getreide vom Boden automatisch in Richtung Stall rutschte. Das lag früher dort oben.“
Beene zeigte nach oben, wo die Strohpacken lagen.
„Außerdem lief der Urin durch die Pinkelrinne automatisch nach draußen, und auch das Schieben des Kotes in Richtung Misthaufen war nicht so anstrengend.“
„Aber der First des Hauses läuft doch durch. Ist das Vorderhaus dann auch schief?“, fragte Anja erstaunt, doch Beene lachte.
„Nein. So richtig schief sind zwei Prozent auch noch nicht. Aber wenn du genau hinschaust, kannst du von außen den kleinen Knick am First sehen, dort wo der Stall beginnt. Die Stallkonstruktion hält übrigens auch ganz allein. Sie ist zwar mit dem Vorderhaus verankert, aber man könnte ringsherum alle Wände einreißen und trotzdem würde das Ständerwerk weiter das Dach tragen. Es ist so sicher konstruiert und mit Balkenmaßen versehen, die weit über dem liegen, was man heute für erforderlich hält, dass es den stärksten Stürmen standhält.“
Sie waren zurück in die Diele gegangen und Beene öffnete das Tor zum Innenhof. Auf der gegenüberliegenden Seite lag der neue Kuhstall, ein einfacher Zweckbau, schmucklos geklinkert und mit kleinen Betonrahmenfenstern versehen, aus dem ein strenger Geruch nach Silage, Mist und vergorener Milch drang, bei dem sich Anja sofort der Magen umdrehte. Obwohl sie nichts sagte, sah Beene es ihrem Gesicht an, dass er sich die Frage sparen konnte, ob sie ihn sich anschauen wolle.
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