Dora hatte in jener Nacht einen merkwürdigen Traum. Sie träumte, dass sie auf einer Wiese stünde. Das Gras war ungewöhnlich hoch gewachsen. Sie ging langsam, die langen Halme links und rechts beiseite schiebend vorwärts. Als sie ein gutes Stück gegangen war, konnte sie erkennen, dass mit dem Rücken zu ihr ein junger Mann im Gras saß. Er saß ganz still. Das braune, halblange Haar wurde, wie die Grashalme, leicht vom Wind bewegt. Dora blieb stehen. Dann sprach sie den Fremden an. Er drehte sich wie in Zeitlupe zu ihr um. Dora erschauderte. Er hatte kein Gesicht.
Ihr Mann war nicht da, als sie sich schreiend in ihrem Bett aufrichtete.
Walter Mehner bereitete gerade das Frühstück für sich und seine Frau zu, als diese die Küche betrat.
„Es ist schon spät.“, sagte er, ohne aufzublicken.
„Tut mir leid. Ich hatte einen furchtbaren Traum. Es war so echt. So als wäre es gar kein Traum gewesen, sondern tatsächlich geschehen.“
Gänsehaut überflutete ihren ganzen Körper.
„Jeder hat mal Alpträume, Dora.“
Herr Mehner begann den Tisch zu decken. Er stellte zwei Teller, zwei Tassen, Butter, Marmelade und Honig auf die weiße Tischplatte. Dann goss er Kaffee ein.
Dora setzte sich. Sie nahm die Tasse in beide Hände und blickte geistesabwesend in das daraus aufsteigende Wölkchen.
„Glaubst du, dass es unserem Kind gut geht, da wo es jetzt ist?“
Ihr Mann setzte sich zu ihr.
„Wo soll das sein? Unser Junge ist tot. Er ist nirgendwo.“
Verbitterung lag in seiner Stimme.
„Es gibt kein danach, Dora. Keinen Himmel. Nur die Hölle für die, die zurückbleiben.“
In den nächsten Tagen ermittelten Hektor und seine Kollegen in der gesamten Nachbarschaft.
Es erfolgten beinahe nahtlos Verhöre. Wie eine lange Kette, die einfach kein Ende hat, sooft man sie auch durch die Finger gleiten lässt.
Hektor und seine Kollegen waren ausgelaugt. Es war frustrierend das sich keinerlei Erfolg abzeichnete. Der Tod von Martin blieb ein Mysterium.
Die Gerichtsmedizinerin, Conni Seidel, hatte die Autopsie von Martin beendet. Hektor hielt sich die Nase zu als er den Raum betrat, indem gerade ein alter Mann auf seine Todesursache untersucht wurde. Vor zwei Tagen hatte er schon einmal den Bericht über die Autopsie von Martin gelesen. Dennoch wollte er noch einmal persönlich von der Gerichtsmedizinerin erfahren, wie genau der Junge gestorben war.
„Du bist aber hartnäckig, mein Lieber. Also, zuerst hat er einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Der hat ihn jedoch nicht getötet.“
Conni machte eine kleine Pause.
„Das Kind ist erstickt. Der Täter hat ihm mit irgendwas Mund und Nase zugehalten. Wir haben rote Fasern in seiner Luftröhre gefunden.“
Conni legte den Bericht auf das Schränkchen mit den Blutproben.
„Schrecklich was diesem Kind angetan wurde.“
Hektor nickte kurz und verließ nachdenklich den Raum.
Vier Wochen waren vergangen. Der Juni hatte kühl und verregnet begonnen. Seit Tagen blieb der Himmel gleichmäßig grau. Alles Lebendige schien sich verkrochen zu haben.
Still war es auch im Haus der Familie Mehner. Dora war mit den Vorbereitungen für das Begräbnis ihres Sohnes beschäftigt. Die schwarze Kleidung ließ sie noch blasser und zerbrechlicher wirken als sonst. Ihr Haar, durchzogen von feinen weißen Fäden, fiel unfrisiert auf die schmalen Schultern. Sie funktionierte wie ein Roboter, ohne Gefühle zu zeigen. Irgendwie war sie mit ihrem Kind gestorben.
Einmal die Woche kam die Putzhilfe. Henriette Stolz achtete darauf, dass immer alles peinlich sauber war.
Heute versuchte sie mit einer Torte, die sie von zu Hause mitbrachte, Dora zu bewegen etwas zu sich zu nehmen. Henriette goss gerade Kaffee in die hübsch geblümte Tasse, als Dora die Treppe zum Wohnzimmer herunter kam.
„Sie sehen müde aus.“
Die Stimme der untersetzten, grauhaarigen Frau klang besorgt.
Henriette legte demonstrativ ein großes Stück auf den Teller und machte eine energische Handbewegung, worauf Dora sich seufzend setzte.
„Das ist wirklich lieb. Aber ich habe überhaupt keinen Hunger.“
Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich mit einem leisen Knarren.
„Max, wie schön. Setz dich doch zu uns.“
Dora schaute auf ihr Stück Torte. „Möchtest Du vielleicht mein Stück Torte essen?“
Sie blickte lächelnd zu ihrem Sohn.
„Später, Mama. Tu es in den Kühlschrank. Wäre wirklich schade drum. Ich muss noch mal weg. Bin gegen achtzehn Uhr wieder da.“
Er nickte Henriette kurz zu und schloss die Tür hinter sich.
„Der arme Junge.“
Henriette schüttelte den Kopf. Sie setzte sich zu Dora. Schweigend aß diese nun doch wenigsten etwas.
Samstag der 8. Juni
Hektor hatte aufgegeben die anwesenden Trauergäste zu zählen. Es waren einfach zu viele, die sich an der kleinen Kirche versammelt hatten. Einige mussten draußen warten, weil sie nicht hinein passten. Der Kommissar hatte sich etwas Abseits zwischen den Kastanienbäumen, welche zahlreich das Gelände umgaben, postiert. Er beobachtete die Anwesenden, studierte ihre Mimik und Gestik.
Nach etwa vierzig Minuten, strömte die Menschenmenge aus der Kirche, allen voran, Dora und ihr Mann. Hektor konnte seine Bewunderung für Dora kaum verbergen. Sie sah einfach bezaubernd aus. Das leichte, schwarze Kleid welches sie trug, hatte einen kleinen Spitzeneinsatz am Dekollté und einen größeren am Rücken. Er wollte am liebsten seinen Blick nicht von ihr wenden, aber seine Aufgabe war es jeden Einzelnen, der beinahe hundert Menschen zu studieren. Doch fand er nur Trauer und Entsetzen in deren Gesichtszügen. Als die Menge das Grab passiert hatte und Dora an der Reihe war, wirkte sie wie versteinert. Sie warf ihre Blüte in das kleine Urnengrab, ging aber nicht beiseite. Sie blieb einfach stehen. Den Blick gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt stand sie da. Ihre Augen waren geschlossen. Es sah aus als würden ihre Lippen Worte formen.
Ein Schwur. Das Versprechen an ihren toten Sohn, dessen Mörder zu finden.
Langsam löste sich die Trauergesellschaft auf. Hektor wartete bis sich alle von der Familie verabschiedet hatten. Dora wollte in diesem Augenblick nur noch ihre engsten Familienmitglieder um sich haben.
„Mein Beileid.“
Hektor reichte einer sehr alten Dame die Hand. Die Mutter von Walter Mehner war eine kleine, weißhaarige Frau. Sie ging leicht gebeugt und stützte sich auf einen Stock.
" Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass sie versuchen, den Mörder von Martin zu finden."
Ihre Stimme war fest und die blauen Augen blitzten voller Entschlossenheit.
Als alle den Friedhof verlassen hatten, ging er zu dem Blumenmeer an Martins Grab. Er faltete seine Hände. In diesem Moment legte sich ein Schmerz auf seine Seele, wie er es noch niemals empfunden hatte und er spürte, dass er keine Ruhe finden würde, bevor er den Mörder dieses Kindes nicht gefasst haben würde.
Seine Gedanken schweiften zu seiner Kindheit, zu seiner Mutter, die er nie richtig kennenlernen durfte. Er war fest entschlossen weiter nach ihr zu suchen, wenn dieser Fall abgeschlossen war.
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